Wer sich für die amerikanische Politik interessiert, der dürfte bald keine Fingernägel mehr haben. Die bevorstehenden Wahlen sind ein Horrorfilm und ein Thriller in einem, und von ihrem Ausgang hängt sehr viel ab. Verständlich also, dass sich vor allem bei jenen, die zu Recht einen neuerlichen Sieg von Donald Trump befürchten, Angst breit macht – um nicht zu sagen Panik, denn die Umfragen lassen einen ruhigen Schlaf derzeit kaum mehr zu.
Daher zunächst ein Ratschlag von Eugene Robinson, einem erfahrenen und mehrfach ausgezeichneten Kolumnisten der «Washington Post». Er schreibt: «Atmet tief durch und hört auf zu hyperventilieren. Vize-Präsidentin Kamala Harris hält nach wie vor einen konsistenten Vorsprung in den nationalen Umfragen aufrecht, und es kann niemand – bis die Stimmen ausgezählt sind – sagen, wie das Resultat in den Swing States ausgehen wird.»
Zum gleichen Schluss kommt auch Ezra Klein in der «New York Times». Er weist darauf hin, dass Meinungsumfragen notorisch ungenau sind. «Durchschnittlich verfehlen sie das Resultat um zwei Prozentpunkte», so Klein. «(…) 2020 lagen die nationalen Umfragen 4,5 Prozentpunkte daneben, die einzelstaatlichen gar 5,1 Prozentpunkte.»
Mit Trump sind die Umfragen besonders heikel. 2016 haben die Meinungsforscher seine Stärke massiv unterschätzt und Hillary Clinton einen sicheren Sieg in Aussicht gestellt. 2020 lag Joe Biden in den Umfragen ebenfalls deutlich vor dem Ex-Präsidenten. Derzeit liefern sich Trump und Harris ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Für die Moderatoren bei Fox News ist dies bereits ein Grund zu jubeln, denn sie rechnen nun mit einem sicheren Sieg ihres Favoriten, zumal Harris noch vor Wochen deutlich die Nase vorn hatte.
Der Jubel von Sean Hannity & Co. könnte jedoch verfrüht sein. Gerade weil die Meinungsforscher in der Vergangenheit Trump unterschätzt haben, werden sie ihre Algorithmen nun angepasst, vielleicht gar überangepasst haben. Will heissen: Es ist gut möglich, dass Trump derzeit in den Umfragen zu gut abschneidet. Das war übrigens auch in den Vorwahlen der Fall, in denen der Ex-Präsident deutlich unter den vorausgesagten Resultaten blieb.
Wer seine Fingernägel schonen will, kann auch Hoffnung aus der Tatsache schöpfen, dass die Republikaner bei den Zwischenwahlen weit unter den Voraussagen der Meinungsforscher blieben, und dass die Demokraten fast alle wichtigen Nachwahlen zu ihren Gunsten entschieden haben.
Die aktuellen Umfragen sind daher nicht wirklich erhellend. «Sie können uns nichts Neues sagen», so Robinson. «Es gibt nichts ausser der Tatsache, dass das Rennen offen ist.»
Das einzig Auffallende an den Umfragen ist ihre bemerkenswerte Konstanz. So hält Klein fest, dass Harris im September vor der Debatte drei Prozentpunkte Vorsprung auf Trump hatte. Dann kam die für Trump katastrophale Debatte, die Fed senkte den Leitzins um 50 Basispunkte, es gab einen zweiten Attentatsversuch auf den Ex-Präsidenten, dann kam die Invasion der israelischen Truppen in den Libanon, dann die Debatte der Vize-Präsidenten, dann die für Harris erstaunlich vorteilhaften Zahlen bezüglich neu geschaffener Jobs und schliesslich auch noch der für Trump sehr unvorteilhafte Bericht des Sonderermittlers Jack Smith. «All dies ist geschehen», so Klein. «Und Harris führt immer noch mit drei Prozentpunkten.»
Mit anderen Worten: Es bewegt sich derzeit nichts. Alle, die sich für Politik interessieren, scheinen ihre Meinung gemacht zu haben, und nichts kann sie offenbar davon abbringen. Deshalb konzentrieren sich die Bemühungen der Wahlkampfstrategen auf die sogenannten «low propensity voters», auf Wählerinnen und Wähler, die mit dem Gedanken spielen, zur Urne zu gehen, aber sich noch nicht sicher sind, ob sie dies auch tun werden.
Trump hat so die jungen schwarzen Männer und die Hispanics entdeckt. Er appelliert an ihren Machismo und hofft, dass es Barack Obama nicht gelingt, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Harris hat in den letzten Tagen einen eigentlichen Interview-Marathon absolviert. Dabei hat sie sich nebst dem traditionellen Gespräch mit «60 Minutes» auf Formate konzentriert, in denen sie vermutet, dass sie ihre «low propensity voters» erreichen kann. Deshalb trat sie in «The View» auf, einer von Frauen geliebten Nachmittags-TV-Sendung, aber auch in der «Late Night Show» von Stephen Colbert, beim Radio-Talker Howard Stern und beim Podcast «Call Her Daddy», der sich vor allem an junge Frauen wendet.
Ob’s nützt, wird sich am 5. November zeigen. Bis dahin hält man sich am besten an den Rat von Ezra Klein: «Ignoriert einfach die Umfragen – ausser ihr seid professionelle Wahlkampf-Strategen oder Gambler.»
Apropos Gambler: Inzwischen sind Wetten auf den Ausgang der Wahlen legalisiert worden. Verschiedenste Produkte sind bereits auf dem Markt. Wie die «Financial Times» meldet, kann man bei einzelnen Wettbüros bis zu 100 Millionen Dollar auf einen der beiden Kandidaten setzen. Das braucht dann wirklich Nerven.
Entweder mit der ersten Präsidentin der USA oder dem Untergang der Demokratie.
Nun hoffen wird, dass es doch noch genügend Intelligenz in den USA gibt, damit der 1. und nicht der 2. Fall geschehen wird.
Auf seine Eskalation bin ich gespannt.