«Erdoğan ist unser Vater, die Türkei ist unser Haus.» Als Strassengraffiti ist dieser Spruch schon seit Jahren auf Mauern oder Stromkästen in zahlreichen Dörfern und Städten der Türkei zu sehen. Hinter dem Satz steckt ein durch viele Generationen getragenes Verständnis vom geachteten bis gefürchteten Staat. Proteste gegen die Regierung waren selten. Bis zuletzt. Nach der Verhaftung des oppositionellen Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu strömten erstmals seit zwölf Jahren Hunderttausende auf die Strassen. Polizisten nahmen Tausende Demonstrierende fest. Richter ordneten Hausarrest oder Untersuchungshaft an. Alles, um die alte Hierarchie zu schützen.
An der Spitze dieser Hierarchie steht Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Er will dort bleiben, vielleicht bis zu seinem Tod. Sein parteipolitisches Instrument dafür ist seit 23 Jahren die «Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung», kurz: AKP oder «AK-Parti», wie vor allem Anhänger sagen. Es ist ein Wortspiel, das auf Deutsch übersetzt so viel bedeutet wie «die reine Partei». Bis auf die Jahre von 2014 bis 2017 ist Erdoğan ihr Vorsitzender.
Jahrelang hatten Erdoğan und seine Partei Wahl um Wahl gewonnen. Gemeinsam mit der AKP legte Erdoğan einst auch das Fundament für das, was er heute die «neue Türkei» nennt. Zahlreiche grosse Unternehmen, fast alle Medienkonzerne und manche Wohltätigkeitsorganisationen gehören Menschen, die der AKP oder ihrem Anführer nahestehen.
Wie weit der Einfluss heute reicht, zeigt eine Boykottliste der grössten Oppositionspartei, CHP, der der verhaftete İmamoğlu angehört. Darauf stehen die Namen von Supermarktketten, Einkaufszentren, Medien, Restaurants, selbst Händler von Audi und Volkswagen sollen fortan gemieden werden.
Als der Chef der Oppositionspartei CHP Özgür Özel zu einem nationalen Boykotttag aufrief, blieben viele Läden und Cafés leer. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft begann Ermittlungen gegen Unterstützer der Aktion. Das Regierungslager liess seinerseits Kabinettsmitglieder und bekannte AKP-Funktionäre wie den Ex-Fussballstar Mesut Özil demonstrativ einkaufen, Kaffee trinken und für den «Zusammenhalt der Nation» werben.
Zwar sind in der Partei längst nicht alle zufrieden mit dem Kurs von Erdoğan, etwa mit den Demonstrationsverboten und dem harten Kurs gegen die Protestierenden. Mitglieder der Partei äussern sich aber bestenfalls in vertraulichen Gesprächen kritisch. Öffentlichen Dissens gibt es kaum. Finanzielle, persönliche und politische Abhängigkeiten haben sich über die Jahre tief ineinander verwoben. Sie halten die Partei zusammen wie ein dichtes Wurzelgeflecht.
Wenn sich in den vergangenen Tagen jemand traute, dann waren es meist Ehemalige. Der frühere Präsident und AKP-Mitbegründer Abdullah Gül warnte etwa kurz nach Beginn der Proteste, dass sie weder der Regierung noch der Opposition guttun würden. Andere, wie der frühere AKP-Bildungsminister Hüseyin Çelik, wurden in den sozialen Medien deutlicher:
Kritik kam auch vom ehemaligen AKP-Abgeordneten Hüseyin Kocabıyık. Gegen ihn wurde daraufhin ein Parteiausschlussverfahren eingeläutet. Der frühere AKP-Abgeordnete Mehmet Metiner sprach daraufhin vor wenigen Tagen in den sozialen Medien von einem «brutalen» internen Widerstand. Der Vorsitzende, also Erdoğan, werde nicht nur alleingelassen, sondern auch noch angeschossen.
Das Verhältnis von AKP und Erdoğan ist ambivalent geworden. Einerseits schützt sie seine Macht. Andererseits wächst intern die Sorge, eines Tages mit ihm haftbar gemacht zu werden.
Diese Befürchtungen können vorerst aber wohl vertagt werden. Das liegt vor allem an dem, was fernab der Proteste passiert ist. Wenige Tage nach der Festnahme İmamoğlus sprach Donald Trumps Sonderbeauftragte für den Nahen Osten, Steve Witkoff, von «guten Nachrichten aus der Türkei». Zwei Tage danach besuchte der türkische Aussenminister Hakan Fidan seinen US-Amtskollegen Marco Rubio. Berichten oppositioneller Medien in der Türkei zufolge sprach Fidan auch die Proteste an. «Machen Sie sich keine Sorge», soll Rubio geantwortet haben. Währenddessen stellten wichtige US-Medien ihre Protestberichterstattung nahezu ein.
Unter US-Präsident Donald Trump leben die türkisch-amerikanischen Beziehungen auf. Bei Trumps jüngster Zollerhöhung kam die Türkei mit einem Satz von nur zehn Prozent glimpflich davon. Das könnte sie als internationalen Wirtschaftsakteur stärken. Auch der für den Posten des US-Botschafters in Ankara nominierte Thomas Barrack lobte die Türkei in einer Senatssitzung diese Woche. Er nannte sie ein «Zentrum der Kulturen, Religionen und des Handels», eine künftige Drehscheibe für den Gastransport nach Europa, ein Schutzschild vor russischer Einmischung. Dank der Türkei könne selbst Chinas Seidenstrassenprojekt «vorübergehend» in Schach gehalten werden.
Als regionaler Verbündeter der USA hat die Türkei gerade grosse Bedeutung. Trump bedrohte zuletzt den Iran. Auch die Türkei liegt mit dem Land im Konflikt. Solange die USA gegen den Iran vorgehen wollen, kann sich die türkische Regierung der Unterstützung aus Washington, D. C. sicher sein. Die frühere US-Diplomatin Nikki Haley betonte im Dezember in einem Fernsehinterview, dass die Türkei der Schlüssel für die Schwächung des Irans sei. Eine ähnlich wichtige Rolle habe das Land für einen Friedensprozess zwischen Russland und der Ukraine. Entgegenkommen könnten die USA der Türkei dafür in Syrien. Die USA unterstützen in Syrien kurdische Milizen, die von der türkischen Regierung als Ableger der verbotenen Kurdenpartei PKK betrachtet und auf syrischem Boden bekämpft werden.
Doch der Aufruf von PKK-Gründer Öcalan, dass die Gruppe sich auflösen soll, und die Reaktivierung der türkisch-amerikanischen Beziehungen können die Dynamik verändern. Ein Szenario, das im türkischen Sicherheitsapparat diskutiert wird: Die PKK-Miliz in der Region löst sich auf, die Türkei macht kurdischen Politikern gegenüber Zugeständnisse, stellt die Angriffe auf Kurden weitestgehend ein. Im Gegenzug erhält die türkische Regierung die Unterstützung der prokurdischen DEM-Partei. Mit ihren Stimmen wäre etwa eine Verfassungsänderung möglich, die Erdoğan seit Monaten anstrebt. Denn nach aktueller Gesetzeslage darf er nicht wieder als Präsidentschaftskandidat antreten. Das ist nicht unrealistisch. Die DEM-Partei beteiligte sich bisher kaum an den Protesten, obwohl auch aus ihren Reihen eine Vielzahl von Bürgermeistern in den vergangenen Monaten abgesetzt worden war.
Es gibt noch weitere Szenarien. Über eins sprach Ende März CHP-Chef Özgür Özel, als er Europas Schweigen anprangerte: Wer zu Hause für Demokratie sei und in der Türkei ihr Gegenteil unterstütze, solle wissen, dass die Regierung sich ändern werde, sagte Özel bei einer Kundgebung. Das ist jedoch das unwahrscheinlichste Szenario.
Unter Erdoğan ist die Türkei aussenpolitisch zu wichtig für die grossen Mächte. Die Bedeutung der Demonstrationen und vereinzelter Unmut in der AKP verblassen vor diesem internationalen Hintergrund. Die alten Strassengraffitis von Regierungsanhängern werden wohl genauso bleiben wie Erdoğan. Und mit ihm die AKP, solange er die Partei noch braucht.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.