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Corona in Bergamo: «Dieses Trauma wird mich ein Leben lang begleiten»

epaselect epa08395544 A person wearing a face mask walks in front of a grafitti mural amid the ongoing pandemic of the COVID-19 disease caused by the SARS-CoV-2 coronavirus in Rome, Italy, 01 May 2020 ...
Italien hat die Corona-Krise hart getroffen. Bei insgesamt 246'776 Infizierten sind 35'129 dem Coronavirus zum Opfer gefallen, unter anderem wegen der Überlastung des Gesundheitssystems.Bild: EPA

Betroffene aus Bergamo erzählen: «Dieses Trauma wird mich ein Leben lang begleiten»

30.07.2020, 09:5030.07.2020, 12:17
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Der Tod ist sein Geschäft. Nicolas Facheris ist Direktor eines Bestattungsinstituts. Die Corona-Pandemie in seiner italienischen Heimat war aber selbst für ihn zu viel.

Der 29-Jährige kommt aus Bergamo, der Provinz, die zum Inbegriff einer aus der Kontrolle geratenen Epidemie mit vielen Toten und furchtbaren Bildern geworden ist. «Wuhan Italiens» nennen einige die Provinz nordöstlich der Millionenstadt Mailand.

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«Ich hatte innerhalb von nur 20 Tagen so viel Arbeit wie sonst in zwei Jahren», erzählt Facheris der Deutschen-Presse-Agentur. Normalerweise, sagt er, gibt es in seiner Kleinstadt Madone weniger als 30 Todesfälle pro Jahr. In diesem Jahr war es anders: «Allein im Monat März hatten wir 34 Tote.» Es war auch der Monat, in dem Facheris in keiner Nacht mehr als drei Stunden schlief.

Den Frühling verbrachte er damit, zwischen Krankenhäusern, Pflegeheimen, Privatwohnungen und Friedhöfen hin und her zu fahren. Die Toten musste er selbst beerdigen, da die Friedhofsarbeiter zu dieser Zeit in Quarantäne waren. «Es gab niemanden, der die Arbeit erledigen konnte, also schritten wir und das andere Bestattungsunternehmen der Stadt ein.» Auf dem Friedhof habe man ihnen irgendwann einfach die Schlüssel in die Hand gedrückt.

Coffins are lined up on the floor in the San Giuseppe church in Seriate, one of the areas worst hit by coronavirus, near Bergamo, Italy, waiting to be taken to a crematory, Thursday, March 26, 2020. T ...
Weil es im Krematorium keinen Platz mehr gab, mussten die Särge in einer Kirche aufbewahrt werden.Bild: AP

Das Schlimmste war, Hinterbliebene zu raschen Entscheidungen drängen zu müssen: Per WhatsApp mussten sie Särge wählen und entscheiden, ob ihre Angehörigen beerdigt oder eingeäschert werden sollten. «Dieses Trauma wird mich ein Leben lang begleiten», sagt Facheris. «Immer noch rufen mich Leute an und fragen: «War Mama richtig angezogen? War ihr Haar frisiert? Stimmt es, dass sie in eine Tüte gesteckt wurde?»

«Wenn Sie mich fragten, wie das Wetter zwischen Februar und Juni war, könnte ich nicht sagen, ob es geregnet oder geschneit hat, ob es schön war oder nicht. Ich habe in einer Blase gelebt.»

Auch Sergio Solivani, der als Freiwilliger für das Rote Kreuz arbeitet, und Pfarrer Mario Carminati waren rund um Bergamo im Einsatz. Pater Carminati liess in der Stadt Seriate kurzerhand Särge in einer Kirche lagern, da im Krematorium kein Platz mehr war. 270 Tote segnete er in dieser dunklen Zeit. «Wenn Sie mich fragten, wie das Wetter zwischen Februar und Juni war, könnte ich nicht sagen, ob es geregnet oder geschneit hat, ob es schön war oder nicht. Ich habe in einer Blase gelebt.»

An Italian flag hangs outside the San Giuseppe church as an Army soldier walks past trucks waiting to load coffins to be taken to crematoriums in Venice and Udine, from Seriate, near Bergamo, northern ...
Auch in Italien musste das Militär einschreiten.Bild: AP

Während Pater Carminati damit beschäftigt war, Beerdigungen zu organisieren und Anrufe von verzweifelten Gemeindemitgliedern anzunehmen, traf der 21 Jahre alte Solivani beim Roten Kreuz Entscheidungen über Leben und Tod. Als Sanitäter war er Teil eines Teams, das beurteilte, ob Patienten mit dem Rettungswagen in ein Krankenhaus gebracht werden oder nicht. «Als ich abends nach Hause kam, fragte ich mich: Hätten wir mehr für diesen Menschen tun können?» Gedanken wie diese quälten den Philosophiestudenten. Erst ein Psychologe konnte ihm helfen, mit den Schuldgefühlen umzugehen.

Im grössten Krankenhaus von Bergamo, Papa Giovanni XXIII., sorgt sich Psychotherapeutin Chiara Bignamini um die mentale Gesundheit der Ärzte, Pfleger und Sanitäter. Sie organisiert Gesprächsrunden. «In Notfällen oder traumatischen Situationen schaltet sich in unserem Gehirn das Sprachzentrum aus», erklärt sie. Denn dann müsse es sich auf mögliche Gefahren konzentrieren. «Während wir Erfahrungen machen, haben wir also Schwierigkeiten, darüber zu sprechen, denn uns fehlen die Worte.» Die Gesprächsrunden sollen bei der Verarbeitung helfen.

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Die Sanitäter mussten täglich entscheiden, was mit den Corona-Patienten geschehen wird.Bild: EPA

Nicht allen gelingt es, zu sprechen. «Ich habe meinen Vater und drei Tanten verloren», sagt Armando Persico, Bildungsexperte aus Albino. Auseinandersetzen will er sich damit nicht. «Für mich gibt es diese Zeit nicht.» Sein Leben habe im Februar geendet und erst im Mai wieder begonnen, nachdem Bergamos dunkelste Tage überstanden waren. Persico will weitermachen. Facheris, dem Bestattungsunternehmer, bleibt beim Blick in die Zukunft nur Hoffnung. «Sie sagen immer wieder, dass dieses Ding im September oder Oktober zurückkehren könnte. Ich hoffe aufrichtig, dass das nicht der Fall sein wird.» (cki/sda/dpa)

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Pandemie in Italien
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Pandemie in Italien
Der verlassene Mailänder Domplatz am 31. März 2020. Die vor drei Wochen verhängte Ausgangssperre zur Eindämmung des Corona-Virus soll bis zum 12. April 2020 verlängert werden. (Quelle: keystone-sda)

quelle: epa / andrea fasani
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33 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Utschli
30.07.2020 10:50registriert September 2016
Und es gibt immernoch Leute, die denVirus für einen Hoax halten:/ auch in der Schweiz...
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Pi ist genau Drei!
30.07.2020 10:54registriert Februar 2017
Dafür haben wir den Lockdown und alle Opfer die damit einhergingen gemacht und konnten damit eine solche situation zumindest in der deutschschweiz verhindern. das dürfen wir nie vergessen und ein wiederanstieg müssen wir um jeden Preis verhindern.
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Don Alejandro
30.07.2020 10:40registriert August 2015
Beruflich habe ich viel mit Norditalien zu tun. Die Berichte wonach alle mit denen ich beruflich zu tun hatte zumindest im Bekanntenkreis Menschen an Covid verloren haben erschaudern mich noch heute. Ein Fall bleibt mir noch in Erinnerung, wo beide Elternteile verstarben.
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