Das Wahlergebnis war besser als erwartet: 401 Stimmen – 40 mehr als notwendig – erhielt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Donnerstag in Strassburg vom EU-Parlament. Die deutsche Politikerin ist damit für eine zweite fünfjährige Amtszeit gewählt. Noch vor wenigen Wochen hatte von der Leyen um ihre Wiederwahl zittern müssen; Kritik an ihr gab es aus allen politischen Lagern.
Anlass dazu gab etwa ihr Führungsstil – sie übergehe regelmässig das EU-Parlament, hiess es. Auch ihre politische Position – den Linken zu rechts, den Rechten zu links – gefährdete ihre Wiederwahl. Daneben machten der ersten Frau an der Spitze der EU-Kommission Ungereimtheiten im Zusammenhang mit den milliardenschweren Corona-Impfstoffverträgen der EU mit dem Pharmaunternehmen Pfizer zu schaffen.
Die Wiederwahl von der Leyens und ihr respektables Wahlergebnis wurden wohl durch die schwierige Lage begünstigt, in der die EU sich derzeit befindet. Eine Mehrheit im EU-Parlament dürfte vor Experimenten zurückgeschreckt sein; eine echte Alternative zu von der Leyen war nicht in Sicht. Wer ist diese Frau, die anscheinend alternativlos die EU führt und letztes Jahr auf der «Forbes»-Rangliste der einflussreichsten Frauen der Welt auf Platz eins stand? Und welche Skandale machen ihr zu schaffen?
Ursula von der Leyen ist das Herrschen sozusagen in die Wiege gelegt worden: Sie wurde 1958 in Brüssel als Tochter des späteren niedersächsischen CDU-Ministerpräsidenten Ernst Albrecht geboren, der damals eine Karriere innerhalb des Beamtenapparats der Europäischen Gemeinschaft (EG) verfolgte. Sie wuchs zunächst in Brüssel auf, wo sie die Europäische Schule besuchte und mehrere Fremdsprachen lernte. 1971 übersiedelte die Familie nach Niedersachsen, nachdem Ernst Albrecht in den Landtag gewählt worden war.
Zuerst studierte Ursula Albrecht kurz Archäologie, dann Volkswirtschaft und schliesslich Medizin; dieses Studium schloss sie 1987 mit dem Staatsexamen ab. 1986 heiratete sie den Medizin-Professor Heiko von der Leyen, mit dem sie sieben Kinder hat. Die Familie lebte zwischen 1992 und 1996 in Stanford in Kalifornien.
1990 trat sie der CDU bei und arbeitete sich allmählich in der Parteihierarchie empor. Von 2004 bis 2019 gehörte die enge Freundin von Angela Merkel dem Bundespräsidium der Partei an. In Niedersachsen war sie von 2003 bis 2005 Familienministerin, danach bis 2009 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und bis 2013 Arbeitsministerin in der Regierung Merkel. Als erste Frau übernahm sie darauf das Verteidigungsministerium, das sie bis zu ihrer Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin im Juli 2019 leitete.
Das Amt als Verteidigungsministerin war ungleich herausfordernder als von der Leyens vorherige Ministerposten: Kurz nach ihrer Ernennung verschärfte sich die Weltlage mit dem Konflikt in der Ukraine und der Annexion der Krim durch Russland merklich. Während ihrer Amtszeit bis 2019 stieg der Etat des Ministeriums um mehr als 11 Milliarden Euro – das entspricht rund einem Drittel.
Von der Leyen ernannte Katrin Suder zur Rüstungsstaatssekretärin; zusammen mit der ehemaligen Berliner McKinsey-Direktorin wollte sie das träge Ministerium mithilfe von Beratern umkrempeln. Das Heer von Externen, die teilweise sogar E-Mail-Adressen des Ministeriums erhielten, führte zu massiven Verstimmungen bei der angestammten Belegschaft – und es kostete Geld, viel Geld.
Diese exzessive Vergabe von Beraterverträgen, die in vielen Fällen ohne Beachtung des Vergaberechts erfolgten, rief den Bundesrechnungshof auf den Plan. Das Ministerium musste den grössten Teil der von diesem Gremium kritisierten Regelverstösse zugeben. Im Januar 2019, noch während von der Leyens Amtszeit, wurde ein Untersuchungsausschuss des Bundestages eingesetzt.
Die Untersuchung der Auftragsvergaben gestaltete sich alles andere als einfach, da relevante Handydaten gelöscht, Akten unzulässig geschwärzt und Dateien vernichtet worden waren. So verschleppte das Ministerium die Herausgabe von Daten auf zwei Diensthandys von der Leyens, wobei sich schliesslich herausstellte, dass die Daten auf Weisung des Ministeriums gelöscht worden waren.
Der Bericht des Ausschusses erschien gut ein Jahr später, als von der Leyen bereits Kommissionspräsidentin der EU war. Zwar gab es darin keine direkten Vorwürfe an die Ministerin, von der Leyen wurde indes im sogenannten Sondervotum der Opposition harsch kritisiert. So sei «das faktische Komplettversagen» des Ministeriums im Umgang mit Beratung und Unterstützung «nicht nur ein Problem der Arbeitsebene, sondern auch Dr. von der Leyen zuzurechnen».
Einige der vom Ministerium bestimmten Berater, die aus den Unternehmen McKinsey oder Accenture stammten, waren Bekannte oder gute Freunde der Staatssekretärin Suder. Diese wies aber alle Vorwürfe zurück und gab an, sie sei nicht in deren Auswahl involviert gewesen. Obwohl Beweise fehlten, drängte sich der Verdacht auf, im Ministerium habe Vetternwirtschaft geherrscht. «Die gebotene Distanz zu ehemaligen Weggefährten hielt sie nicht ein», hiess es zu Suder im Sondervotum der Opposition.
Nur einen Tag vor ihrer Wiederwahl musste von der Leyen eine herbe Niederlage einstecken: Das Gericht der EU (EuG) in Luxemburg veröffentlichte ein Urteil, wonach die EU-Kommission mit ihrer Geheimhaltung von Informationen zu den milliardenschweren Corona-Impfstoffverträgen gegen europäisches Recht verstossen hat. Das Urteil ist nicht letztinstanzlich, es kann noch an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weitergezogen werden.
Während der Corona-Pandemie hatte die Kommission im Namen der EU-Staaten mit mehreren Pharmaunternehmen Abkommen über den Kauf von Covid-19-Impfstoffen verhandelt. Laut Daten des Europäischen Rechnungshofs schloss von der Leyens Behörde bis Ende 2021 Verträge im Wert von 71 Milliarden Euro ab, mit denen bis zu 4,6 Milliarden Impfstoffdosen gesichert wurden.
Der EuG gab nun den Klagen von EU-Abgeordneten und Privatpersonen teilweise statt, die 2021 Zugang zu diesen Verträgen beantragt hatten. Die Kommission unter dem Vorsitz von der Leyens hatte die Dokumente jedoch nur mit umfangreichen Schwärzungen zugänglich gemacht. Das Gericht erklärte die Entscheidungen der Kommission für nichtig, soweit sie ungerechtfertigt seien. Insbesondere habe sie nicht ausreichend begründet, warum die Einsicht in die Klauseln über Entschädigungsregeln die geschäftlichen Interessen der Pharmaunternehmen beeinträchtigen würde.
Das Verfahren vor dem EuG ist nicht der einzige Fall im Zusammenhang mit der Beschaffung von Covid-19-Impfstoffen, bei dem der Kommission und von der Leyen persönlich juristisches Ungemach droht. Die Europäische Staatsanwaltschaft (EuSta) ermittelt aufgrund mehrerer Klagen gegen die Kommissionspräsidentin. Dabei geht es um den dritten Liefervertrag mit dem US-Pharmariesen Pfizer über 1,8 Milliarden Impfdosen im Wert von schätzungsweise 35 Milliarden Euro. Es war der grösste Liefervertrag in der Geschichte der EU.
Was die Angelegenheit zu «Pfizer-Gate» machte: Von der Leyen führte die Vorverhandlungen persönlich, ohne ein entsprechendes Mandat dafür zu haben. Möglicherweise gestand sie dem US-Konzern dabei einen zu hohen Preis zu. Die Bestellung – ausreichend für vier Dosen für alle EU-Bürger – erwies sich überdies als viel zu gross. Nur schon im letzten Jahr mussten Dosen im Wert von mindestens vier Milliarden Euro vernichtet werden.
Den Mega-Deal hatte von der Leyen per SMS mit Pfizer-Chef Albert Bourla eingefädelt, wie die «New York Times» berichtete. Der Europäische Rechnungshof kritisierte dies in einem Bericht – von der Leyen habe die Vorverhandlungen an den Verfahrensregeln vorbei geführt. Der Rechnungshof und auch die EU-Ombudsfrau Emily O’Reilly sowie weitere Akteure verlangten darauf Einsicht in die SMS-Textnachrichten. Die Kommission lehnte dies mit dem Hinweis auf deren «kurze Lebensdauer» ab; sie würden deshalb nicht als «Dokument» gelten und müssten daher nicht gemäss den europäischen Transparenzvorschriften veröffentlicht werden.
Auch die «New York Times» forderte die Offenlegung der Textnachrichten, doch die Kommission verweigerte dies. Die Zeitung legte darauf in Berufung auf Artikel 42 – Recht auf Zugang zu Dokumenten ebenfalls Klage beim EuG ein. Obwohl von der Leyen gegenüber der «New York Times» ihr gutes Verhältnis zu Bourla erwähnte und nach eigenem Bekunden eine Schlüsselrolle bei der Beschaffung der Impfdosen spielte, behauptete EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides später in einer Anhörung vor dem Corona-Ausschuss des EU-Parlaments, von der Leyen habe keine Rolle bei der Aushandlung der Impfstoffverträge gespielt. Klarheit darüber könnten die SMS-Nachrichten verschaffen, welche die Kommission nicht herausrücken will.
Den Vorwurf von Günstlingswirtschaft und Parteienfilz handelte sich von der Leyen Anfang Jahr auch mit der Ernennung ihres Parteikollegen Markus Pieper zum neuen Beauftragten für kleine und mittelgrosse Unternehmen ein – dem sogenannten «Pieper-Gate». Die Berufung des CDU-Europaabgeordneten rief massive Kritik hervor: Sowohl EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton wie der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell und die Kommissare Paolo Gentiloni und Nicolas Schmit hatten in einem Brief Bedenken über die «Transparenz und Unvoreingenommenheit» bei der Ernennung Piepers geäussert.
Tatsächlich machte von der Leyen nicht transparent, warum sie ausgerechnet Pieper die lukrative Stelle – das Anfangsgehalt beträgt monatlich 18'434 Euro – zugeschanzt hatte. In der Anfangsphase des monatelangen Auswahlverfahrens waren zwei Bewerberinnen aus Schweden und Tschechien besser bewertet worden als der 60 Jahre alte Pieper. Möglicherweise kam von der Leyen mit der Ernennung des CDU-Abgeordneten aus Nordrhein-Westfalen ihrer Partei entgegen: Die CDU in diesem Bundesland wollte dessen Listenplatz vor der Europawahl für eine Frau freimachen.
Schliesslich rief das Europaparlament die Kommissionspräsidentin dazu auf, Piepers Ernennung rückgängig zu machen. Ein von Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen verfasster Antrag dazu wurde im Plenum mit 382 Stimmen angenommen. 144 Abgeordnete stimmten dagegen, 80 enthielten sich. Unter diesem massiven Druck verzichtete Pieper am Ende auf das Amt.
Offenbar braucht es viel kriminelle Energie, um politisch erfolgreich zu sein (siehe Trump).