Das Völkerrecht wird gebrochen, seit es existiert. Es gibt keine Weltregierung, die es durchsetzen könnte, es gibt auch keine Weltpolizei, die Völkerrechtsbrecher ins Gefängnis stecken könnte. Die militärische Intervention der NATO im Kosovo im Jahr 1999 war völkerrechtswidrig – jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass eine solche Intervention nur gerechtfertigt ist, wenn es dafür ein Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen gibt. Völkerrechtswidrig war auch der Krieg gegen den Irak 2003. Und ebenso natürlich der russische Einmarsch in die Ukraine vor drei Jahren.
Insofern könnte man argumentieren: Wo ist das Problem, wenn Israel nun den Iran angreift, um das Atomprogramm des Landes zu stoppen? Es ist im Interesse des Westens, dass der Iran die Bombe nicht bekommt. Genau so scheint auch die deutsche Regierung zu argumentieren. Aussenminister Johann Wadephul beispielsweise sagte, die nuklearen Ambitionen des Landes seien «eine Bedrohung für die ganze Region und insbesondere für Israel», deshalb habe die israelische Regierung «das Recht, seine Existenz und die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu verteidigen». Und Friedrich Merz meint sogar, Israel erledige die «Drecksarbeit» für den Westen.
Es ist allerdings mehr als fraglich, ob es sich bei den israelischen Schlägen im völkerrechtlichen Sinn um eine Verteidigungsaktion handelt. Die Charta der Vereinten Nationen ist in dieser Hinsicht relativ klar. Ein Recht auf einen Präventivschlag gibt es nicht. Vielmehr haben alle Mitgliedsstaaten «jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt» zu unterlassen. Im Fall eines bewaffneten Angriffs gibt es zwar ein Recht auf Selbstverteidigung (auf das sich etwa die Ukraine beruft), aber der Iran hat Israel nicht angegriffen. Und ein solcher Angriff stand nach allem, was man weiss, auch nicht unmittelbar bevor.
Zahlreiche Völkerrechtler kommen deshalb zu dem Ergebnis, die israelischen Attacken seien durch das internationale Recht nicht gedeckt. Der Göttinger Rechtsprofessor Kai Ambos beispielsweise warnt vor einer «Unterminierung des Gewaltverbots», und sogar sein bei diesem Thema eher grosszügiger Bonner Kollege Matthias Herdegen spricht von einer «völkerrechtlich tiefgrauen Zone» – vor allem, weil Israel auch Wissenschaftler getötet hat.
Aber was, wenn es am Ende darauf nicht ankommt? Sondern auf die Frage, ob der Bruch des Völkerrechts aus politischen Gründen als legitim betrachtet wird? Immerhin regiert in Teheran ein menschenverachtendes Terrorregime, das viel Leid über seine Bevölkerung und die gesamte Region gebracht hat. Die Welt wäre sehr wahrscheinlich ein besserer Ort, wenn die Mullahs nicht mehr an der Macht wären. Es spricht mit anderen Worten aus der Sicht des Westens moralisch sehr viel für die Angriffe der israelischen Regierung. So wie moralisch sehr viel für die Schläge der NATO gegen Serbien sprach, mit denen eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindert werden sollte.
Nur ist Recht nicht dasselbe wie Moral. Eine Rechtsnorm mag sich aus einem moralphilosophischen Grundsatz speisen («Du sollst nicht stehlen!»), aber ob es sich bei einem konkreten Sachverhalt um Diebstahl handelt und wie er geahndet wird, darüber entscheiden Gerichte auf Basis der verabschiedeten Gesetze. Das Recht gilt – innerhalb gewisser Grenzen – zunächst einmal auch dann, wenn es inhaltlich ungerecht ist.
Mit ihrer Überführung ins Recht erreicht die Moral gewissermassen einen höheren Objektivitätsgrad. Der Rechtfertigung einer Handlung werden Grenzen gesetzt. Im Fall des Angriffs auf den Iran bedeutet das: Es reicht nicht aus, dass die israelische Regierung militärisch in der Lage ist, die iranische Luftwaffe auszuschalten. Es reicht auch nicht aus, wenn Israel sich von einer möglichen iranischen Bombe bedroht fühlt (was ohnehin ein problematisches Argument ist, weil die Israelis selbst Atommacht sind und auf jeden Angriff mit der Auslöschung des Gegners reagieren können). Diese Bedrohung muss auf die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen zurückgeführt werden können. Nur dann ist ein Gegenschlag völkerrechtlich legitim.
Damit geht eine Einschränkung der nationalen Souveränität einher, wie sie der Westfälische Friede von 1648 etabliert hatte. Damals wurde das Leitbild des souveränen Nationalstaats entwickelt, der keiner äusseren Instanz unterworfen ist und auch Kriege führen darf – auch wenn dies nur dem Machtstreben des Fürsten dient. Man kann die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Versuch einer Überwindung der zwischenstaatlichen Anarchie verstehen. Die Normen des Völkerrechts sind nicht perfekt, aber immerhin gibt es Normen, zu denen sich mehr oder weniger alle Staaten bekennen.
Darin liegt auch die Problematik des Arguments, im Angesicht der iranischen Bombenpläne sei das Völkerrecht zweitrangig. Dass internationale Regeln gebrochen werden, liegt in ihrer Natur, aber Schwere, Ausmass und Häufigkeit des Normbruchs spielen eine Rolle. Sofern das Handeln der Staaten keinerlei allgemein akzeptierten Regeln mehr unterworfen ist, dann wird die Macht des Rechts abgelöst durch das Recht der Macht.
Das wird spätestens dann unangenehm, wenn sich die Angriffspläne, wie im Fall der Ukraine schon geschehen, gegen den Westen selbst richten. Es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass China irgendwann argumentieren wird, es fühle sich durch Taiwan «bedroht» und müsse deshalb einen Schlag gegen das Land führen. Wer die Guten sind und wer die Bösen, ist am Ende nun einmal immer auch Ansichtssache. Und klar ist auch: Wenn das Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen komplett fällt, dann werden immer mehr Staaten nach der Atombombe streben. Denn diese wäre dann womöglich der einzige Garant für territoriale und politische Integrität eines Landes.
Das Völkerrecht etabliert einen normativen Begründungszwang und kann allein deshalb als zivilisatorische Errungenschaft betrachtet werden. Diese ist aber bedroht, wenn das Recht wieder auf seinen moralischen Kern zurückgeführt wird. Diese Gefahr sollte man zumindest bedenken, auch wenn ein solches Vorgehen im Einzelfall gerechtfertigt sein mag. Das gilt auch für den deutschen Aussenminister.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.