Die Stimmung in Georgien ist aufgeladen. Zehntausende Menschen gehen seit Wochen auf die Strasse, um gegen ein umstrittenes Gesetz zu demonstrieren, das die verschärfte Kontrolle von Nichtregierungsorganisationen bringt.
Mitte April prügelten sich Abgeordnete deswegen schon im Parlament. Gegen die mehrheitlich friedlichen Proteste ging die Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen vor. Bisher wurden über 60 Personen festgenommen. Unter ihnen auch der Vorsitzende der grössten Oppositionspartei Vereinte Nationalbewegung (UNM) Lewan Chabeischwili. Er teilte daraufhin ein Bild in den sozialen Medien, auf dem er mit blutigem und geschwollenem Gesicht zu sehen ist.
Ebenfalls an vorderster Front mit dabei ist Helen Khoshtaria. Die Abgeordnete ist Gründerin der Oppositionspartei Droa. Sie wurde schon mehrmals verhaftet. Trotzdem ist sie wieder regelmässig auf der Strasse. «Wir befinden uns in einer Notsituation», sagt sie zu CH Media. Neben dem Gesetz gehe es den Demonstranten darum, die Freiheit und Unabhängigkeit von der prorussischen Regierung zurückzugewinnen.
Auf den Strassen der Hauptstadt versammeln sich zurzeit Zehntausende Menschen, um zu protestieren. Die Polizei antwortet darauf mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen. Mehrere Personen wurden verletzt. Das Vorgehen wurde unter anderem von der EU scharf verurteilt.
«Die Polizei ist extrem aggressiv», sagt Helen Khoshtaria. Sie würde russische Strategien anwenden. «Die Polizisten entführen und schlagen Menschen.» Oft seien sie dabei maskiert und nicht klar als Polizei erkennbar.
Die Regierung bestreitet dies. Sie rechtfertigt das Vorgehen der Sicherheitskräfte. Alle Beamte hätten gesetzeskonform gehandelt, während Demonstrierende versucht hätten, die Türen des Parlaments aufzubrechen, heisst es.
Das neue Gesetz sieht vor, dass Nichtregierungsorganisationen (NGO), die mehr als 20 Prozent ihres Geldes aus dem Ausland erhalten, dies künftig ausweisen sollen. Das soll den angeblichen Einfluss des Auslands auf die Zivilgesellschaft in Georgien beschränken, so die Haltung der Regierung.
Im EU-Beitrittskandidatenland werden viele Projekte zur Demokratieförderung von EU-Staaten oder den USA finanziell unterstützt. Kritiker befürchten, dass das Gesetz - wie in Russland - dafür missbraucht werden könnte, um russlandkritische und prowestliche Organisationen zu verfolgen.
Die Regierungspartei Georgischer Traum ist seit 12 Jahren die regierende Partei. Sie tritt zunehmend autoritär auf. Das Gesetz könnte unter anderem den Beitritt zur EU erschweren, fürchten viele Demonstrierende. Rund 80 Prozent der Bevölkerung befürworten einen EU-Beitritt.
«Wir haben das Gefühl, das Land zu verlieren», sagt Khoshtaria. Oligarch und Parteigründer Bidsina Iwanischwili würde das ehemalige Mitglied der Sowjetunion mit «Georgischer Traum» vom Westen isolieren und zurück in den russischen Einfluss ziehen. Das Ziel der Protestbewegung ist deshalb klar: «Letztlich wollen wir die prorussische Regierung loswerden», so die Oppositionspolitikerin.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verurteilte die Gewalt gegen die Demonstranten in Tiflis und warnte die georgische Regierung, das Gesetz gegen «ausländische Agenten» in Kraft zu setzen. Georgien befinde sich an einer «Weggabelung» und sollte den Kurs Richtung Europa halten.
Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell verurteilte die Polizeigewalt gegen Demonstranten als «inakzeptabel». Konkrete Sanktionen drohte die EU Georgien zwar keine an. Vorstellbar wäre aber, dass einzelne Personen mit Strafmassnahmen belegt werden oder der Prozess zur Eröffnung von Beitrittsverhandlungen eingefroren würde.
Im schlimmsten Fall könnte der Kandidaten-Status wieder aberkannt werden. Deutschlands Aussenministerin Annalena Baerbock rief die Regierung in Tiflis dazu auf, «den Weg in die Zukunft nicht mutwillig zu verbauen».
Der EU-Beitrittswunsch ist Kern der georgischen West-Orientierung, welche das Land seit Jahren anstrebt. Das Ziel, der EU beizutreten, ist sogar in der Verfassung festgeschrieben. Wie die Ukraine schloss Georgien 2014 ein Assoziierungsabkommen mit der EU ab. Das offizielle Beitrittsgesuch reichte Tiflis gleichzeitig wie die Republik Moldau im März 2022, kurz nach der russischen Invasion der Ukraine, ein.
Ende 2023 erhielt Georgien dann den Status als Beitrittskandidat zuerkannt, wenngleich unter Auflagen. Mit einer Annäherung an die EU erhoffen sich die Georgierinnen und Georgier nicht nur wirtschaftliche Vorteile, sondern auch eine Zurückbindung des russischen Einflusses. Seit dem Krieg 2008 hält Russland immer noch Teile des Landes besetzt und hat Soldaten in den abtrünnigen Teilrepubliken Südossetien und Abchasien stationiert.
Die georgische Präsidentin Salome Surabischwili kritisierte das neue Gesetz. Sie kündigte an, ihr Veto einzulegen, sollte es das Parlament verabschieden. Das Problem: Die Regierungspartei kann ihr Veto überstimmen. Diesen Schritt hat Regierungschef Irakli Kobachidse bereits angekündigt.
Aufgeben kommt für die Abertausenden Demonstrierenden aber nicht infrage. «Die meisten haben verstanden, dass das Problem nicht mit einmal Protestieren gelöst werden kann», sagt Helen Khoshtaria. Es sei ein langer Prozess. Im Hinblick auf die nächsten Wahlen im Herbst bedeute dies, dass die Menschen Tag für Tag auf die Strasse gehen müssen, um ihre Botschaft friedlich zu platzieren und die Opposition politisch zu stärken. Auf die Frage, ob sie glaube, dass die Proteste zu einem Regierungswechsel führen werden, antwortet die Aktivistin: «Absolut. Wir haben keine andere Wahl. Die Alternative wäre, unser Land zu verlieren.» (aargauerzeitung.ch)