Zwischen Polen und Russland liegt Weissrussland, amtlich Belarus genannt – ein Binnenstaat, der für die meisten Westeuropäer eine Terra incognita ist. Das Land ist fünfmal grösser als die Schweiz, zählt jedoch nur knapp zehn Millionen Einwohner. Wenn hierzulande etwas über Belarus bekannt ist, dann wohl die Tatsache, dass es von Alexander Lukaschenko mit eiserner Hand regiert wird und dies fast so lange, wie das Land überhaupt unabhängig ist.
Und Lukaschenko, den manche den «letzten Diktator Europas» nennen, denkt offensichtlich nicht daran, sein Amt abzugeben: Am 9. August stellt sich der ewige Präsident zur Wiederwahl. Es wäre seine sechste Amtszeit in Folge. Um den Machterhalt zu sichern, geht Lukaschenko so vor, wie man es von ihm auch vor früheren Wahlen gesehen hat – er lässt potentielle Rivalen verhaften.
Am Donnerstag traf es Viktor Babariko, der wegen illegaler Geschäftspraktiken, darunter Korruption, in Untersuchungshaft genommen wurde. Der 56-jährige finanzkräftige Ex-Bankier galt bis zu seiner Verhaftung als wichtigster Herausforderer Lukaschenkos. Bei nicht-repräsentativen Umfragen im Internet – reguläre Umfragen sind verboten – belegt er den ersten Platz. Babariko hat nach eigenen Angaben über 430'000 Unterschriften für seine Kandidatur gesammelt. Um zur Wahl antreten zu können, benötigt ein potentieller Kandidat 100'000 Unterschriften.
Am Freitag – an diesem Tag endete die Sammlung von Unterstützungsunterschriften für die Kandidaten – kam es in der weissrussischen Hauptstadt Minsk zu Protestaktionen während der Unterschriftensammlung. Demonstranten bildeten Menschenketten und forderten die Freilassung von Verhafteten. Gemäss der Menschenrechtsorganisation Wjasna nahmen die Sicherheitskräfte dabei mindestens 80 Personen fest. In anderen Städten wie Bobruisk, Witebsk, Brest und Mogilew sollen insgesamt 20 Personen verhaftet worden sein. Einige wurden am Samstag wieder auf freien Fuss gesetzt.
Babariko hatte bis zum Start seiner Kandidatur die Belgazprombank geleitet, eine Tochtergesellschaft des russischen Energiekonzerns Gazprom. Die weissrussische Polizei nahm bei Razzien insgesamt mehr als 15 Personen aus dem Umfeld der Bank fest. Die Generalstaatsanwaltschaft hat ein Verfahren eröffnet; Babariko wird die Bildung oder Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Ihm drohen 15 Jahre Haft.
Schon Ende Mai hatte Lukaschenko einen weiteren aussichtsreichen Kandidaten aus dem Verkehr gezogen: Der Aktivist und Blogger Sergej Tichanowski, der einen populären Videokanal betreibt, wurde in Grodno verhaftet. Er habe Gewalt gegen einen Polizeibeamten angewendet, liessen die Behörden verlauten. Die Wahlkommission belegte Tichanowski darauf mit einem Kandidaturverbot. Nun will seine Frau Swetlana an seiner Stelle antreten – was Lukaschenko mit der Aussage quittierte, die weissrussische Verfassung sei «nicht für eine Frau» ausgelegt.
Es scheint, als ob das Regime Nerven zeigt. Lukaschenko bezeichnete die Aktivisten als «Banden von Kriminellen», die die Präsidentschaftswahlen stören wollten. Er werde nicht zulassen, dass sie die Lage destabilisierten. Die Proteste in dem Land seien ungewöhnlich, sagen Experten. Dem 65-jährigen Präsidenten werde vor allem zur Last gelegt, wie seine Regierung mit der Corona-Pandemie umgeht. Lukaschenko nennt das Virus einen «Schwindel», verfügte keinerlei Schutzmassnahmen und schlug als Mittel gegen Covid-19 «sto gramm» («hundert Gramm» = ein Deziliter Wodka), Saunagänge und Traktorfahren vor.
Wer ist der Mann, der sich seit 26 Jahren an die Macht klammert und nahezu jede Opposition im Keim ersticken lässt? Seit der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew im März 2019 zurücktrat, ist Lukaschenko der dienstälteste Staatschef in den Staaten, die nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden.
Lukaschenko begann in einfachen Verhältnissen. 1954 in Kopys im Osten des Landes geboren, wuchs er ohne Vater auf, studierte Geschichte und Landwirtschaft und wurde Politkommissar in der Roten Armee. Ab 1987 leitete er eine Sowchose, einen landwirtschaftlichen Grossbetrieb. Seine Chance kam mit der Unabhängigkeit Weissrusslands – die er, wie er später behauptete, als einziger Abgeordneter des weissrussischen Obersten Sowjets abgelehnt habe.
Als Chef des Anti-Korruptionskomitees des Parlaments beschuldigte Lukaschenko Ende 1993 den amtierenden Präsidenten und Parlamentsvorsitzenden Stanislau Schuschkewitsch und weitere Politiker, sie hätten sich an Staatseigentum bereichert. Der ohnehin angeschlagene Schuschkewitsch verlor darauf eine Vertrauensabstimmung und wurde durch einen Interimspräsidenten ersetzt. Nachdem das Parlament im März 1994 eine neue Verfassung mit einem Präsidialsystem eingeführt hatte, obsiegte Lukaschenko im Juli bei den – damals noch weitgehend freien – Präsidentschaftswahlen mit 80 Prozent der Stimmen.
Der neue starke Mann gab sich volkstümlich. Die vom wirtschaftlichen Niedergang nach der Unabhängigkeit traumatisierten Weissrussen – mehr als ein Drittel der Bevölkerung verkehrte in Armut – nannten Lukaschenko damals noch «Batka» («Väterchen»). Sie hofften, der neue Präsident, der nicht zur Nomenklatur gehörte, werde wie versprochen hart gegen die Korruption vorgehen und der maroden Wirtschaft wieder auf die Sprünge helfen. Dies geschah jedoch nicht: Die marktwirtschaftlichen Reformen blieben zaghaft und 1996 liess Lukaschenko auch die wenigen Privatunternehmen wieder verstaatlichen.
Im selben Jahr löste Lukaschenko auch das Parlament auf und führte ein Verfassungsreferendum durch, das ihm erheblichen Machtzuwachs einbrachte. Er konnte nun den Generalstaatsanwalt, die Vorsitzenden des Obersten Gerichts und des Verfassungsgerichts und die Hälfte der Verfassungsrichter bestimmen. Schliesslich schaffte er auch das Verbot einer dritten Kandidatur für das Amt des Präsidenten ab.
Schon unmittelbar nach seiner Amtsübernahme hatte Lukaschenko begonnen, die Medien unter Kontrolle zu bringen. 1995 wurden oppositionelle Zeitungen und unabhängige Gewerkschaften verboten. Der Autokrat stützte sich dabei vor allem auf den Geheimdienst, der in Belarus nach wie vor KGB heisst wie einst in der Sowjetunion. Oppositionspolitiker lebten in Belarus zusehends gefährlich – 1999 und 2000 verschwanden mehrere Oppositionelle, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von Todesschwadronen entführt und ermordet wurden.
Protestkundgebungen liess Lukaschenko jeweils mit harter Hand niederschlagen. Einen Höhepunkt erreichte die Repression 2010, als zahlreiche Demonstranten gegen die gefälschten Wahlen auf die Strassen gingen. Die Kundgebungen wurden gewaltsam aufgelöst und mehr als 30 Oppositionelle zu Haftstrafen verurteilt; einige von ihnen verschwanden für mehrere Jahre hinter Gittern.
In das System der drakonischen Strafen fügt sich auch die Todesstrafe, die in Weissrussland durch einen Genickschuss vollstreckt wird. Sie ist noch nicht abgeschafft; Belarus ist der einzige Staat Europas, der noch Verurteilte hinrichtet – zuletzt 2019, als zwei Todesurteile vollstreckt wurden. Seit 2010 wurden 14 Menschen exekutiert.
Aussenpolitisch strebte Lukaschenko zunächst eine Neuauflage einer Art Kern-Sowjetunion mit Russland und der Ukraine an und lehnte sich stark an Moskau an. Belarus ist wirtschaftlich stark von Russland abhängig; zudem lebt eine grosse russische Minderheit im Land. Erst mit der Annexion der Krim durch Russland 2014 zeigten sich deutliche Risse im Verhältnis zum grossen Bruderland. Lukaschenko musste befürchten, dass der russische Präsident Wladimir Putin im Zuge seiner Politik der «Sammlung russischer Erde» auch das kleine Belarus schlucken könnte; seither verfolgt er einen gemässigt nationalistischen Kurs und balanciert zwischen der EU und Moskau.
Wie so mancher Autokrat hat Lukaschenko den anfänglichen Kredit bei der Bevölkerung längst aufgebraucht und muss nur schon deshalb an der Macht bleiben, um Bestrafung oder gar Rache seitens der jahrzehntelang geknechteten Untertanen zu verhindern – es ist, wie ein bekanntes Bild es ausdrückt, «ein Ritt auf dem Tiger»: Es geht nur so lange gut, bis man absteigt. Wohl auch deshalb scheint Lukaschenko dynastische Gelüste zu entwickeln: Bei öffentlichen Anlässen zeigt er sich oft mit seinem ausserehelichen Sohn Nikolai. Der ist freilich erst 16 Jahre alt – Lukaschenko müsste also noch eine Weile am Ruder bleiben, bis er das Szepter an seinen Sohn übergeben kann.
(mit Material der Nachrichtenagentur SDA)
Heisst also: der Diktator nennt es einen Schwindel, weil er keine Lust hat, irgendwas zu unternehmen.. eine sehr stalinistische Einstellung. ..nicht zu beneiden, die Weissrussen. :(
Traurig dass es sowas in Europa noch geben kann... Und Polen ist ja auch auf bestem Weg da hin.
Hoffen wir dass Donald das nicht liest, eine Herrschaft wie diese wäre für ihn wohl ein wahrgewordener Traum.
Aber wenn er sich nach seiner Präsidentschaft nach Russland absetzt ist vielleicht irgendwo eine Stelle für ihn offen :)
Ich wünsche der Bevölkerung, dass sie doch auch bald von diesem Diktator frei werden. Aber es wird wohl noch ein langer und steiniger Weg werden. Besonders wenn keine Unterstützung von aussen kommt.
Diese alten, machtgeile Männer sind wirklich zum 🤮