Boris Johnson hatte gerade einen Lauf. Kein Land in Westeuropa impft schneller und erfolgreicher gegen das Coronavirus als Grossbritannien. Damit konnte der konservative Premierminister von seinem desaströsen Pandemie-Management im letzten Jahr ebenso ablenken wie von den Auswirkungen des definitiven Brexit auf die Wirtschaft und Nordirland.
In der zweiten Hälfte 2020 war die Ablehnung von Johnsons Amtsführung in der britischen Bevölkerung deutlich höher als die Zustimmung. Jetzt ist es genau umgekehrt. Auch seine Tories liegen in den Umfragen klar vor der oppositionellen Labour-Partei. Dann aber liess ausgerechnet das stramm rechte Revolverblatt «Daily Mail» am Montag eine Bombe platzen.
This is an utterly sickening attitude. Sickening. pic.twitter.com/ZdXnZKzwbR
— Andrew Gwynne MP 😷💙 (@GwynneMP) April 26, 2021
Er nehme lieber in Kauf, dass sich «Tausende Leichen stapeln», als einen zweiten Lockdown zu verhängen, soll der Regierungschef im letzten Herbst gesagt haben. Die fette Schlagzeile sorgte für Empörung und heftige Dementis. Doch andere Medien – darunter BBC und Politico – bestätigten die Aussage mit Berufung auf ungenannte Insider.
Wirklich überrascht ist kaum jemand. Der notorisch flatterhafte Johnson ist bekannt für seine lockere Zunge und seine Anfälligkeit für unsensible Bemerkungen. Doch in diesem Fall wiegen die Vorwürfe besonders schwer: In Grossbritannien sind rund 150’000 Menschen an oder mit Covid-19 gestorben. Es ist die gravierendste Opferbilanz in Europa.
Die Suche nach der Quelle für die explosive Schlagzeile konzentrierte sich auf eine Person: Dominic Cummings. Er war Chefberater und enger Vertrauter von Boris Johnson, bis er im November den Regierungssitz an der Downing Street Nr. 10 verlassen musste. Es war eine Kampfscheidung für das einstige «Traumpaar» der britischen Politik.
Der 49-jährige Cummings gilt als ebenso brillant wie skrupellos. Edelmime Benedict Cumberbatch porträtierte ihn im Dokudrama «Brexit: The Uncivil War» als Soziopathen, der die Kampagne für den EU-Austritt des Königreichs orchestriert und den Slogan «Take Back Control» kreiert hatte. Parallelen zu Donald Trumps «Consigliere» Steve Bannon waren offensichtlich, inklusive der häufig saloppen Kleidung.
Nachdem Boris Johnson, der Wortführer der Brexit-Kampagne, im Juli 2019 zum Parteichef der Tories und Nachfolger der glücklosen Premierministerin Theresa May gewählt worden war, holte er Dominic Cummings an seine Seite. Dieser verhalf ihm mit einem weiteren knackigen Slogan («Get Brexit Done») im Dezember zu einem glänzenden Wahlsieg.
Dann kam Corona und Cummings geriet ins Zwielicht, weil er gegen Lockdown-Auflagen verstossen und sich in bizarre Ausreden geflüchtet hatte. Schliesslich kam es zum Bruch, wofür auch Johnsons Partnerin Carrie Symonds verantwortlich war. Sie soll sich einen Machtkampf mit dem umstrittenen Berater geliefert und dessen Rauswurf provoziert haben.
Demonstrativ verliess Dominic Cummings Downing Street Nr. 10 durch die Vordertüre, in den Händen eine Kartonschachtel mit unbekanntem Inhalt. Im Rückblick war es wie eine Ansage: Ich besitze Material, mit dem ich dem Premierminister schaden kann. Nun scheint er dieses in Form eines Rachefeldzugs gegen Johnson zu verwenden.
Es begann mit Enthüllungen über pikante Whatsapp-Chats des Regierungschefs mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed Bin Salman (wegen der Übernahme des Premier-League-Klubs Newcastle United) und dem Staubsauger-Tycoon James Dyson (wegen Steuererleichterungen als Gegenleistung für die Produktion von Beatmungsgeräten).
Cummings geriet unter Verdacht, die Chatnachrichten geleakt zu haben. Er dementierte dies am letzten Freitag auf seinem Blog, dafür attackierte er Johnson in einer anderen höchst brisanten Angelegenheit: Der Premier und seine Freundin hätten sich die Renovation der Dienstwohnung im Nachbarhaus Nr. 11 von einem Geldgeber der Tories bezahlen lassen.
Er habe Johnson gesagt, seine Pläne seien «unethisch, dumm, womöglich illegal und ziemlich sicher ein Verstoss gegen die Regeln über die ordnungsgemässe Deklaration von politischen Spenden», schrieb Cummings. Die Regierung reagierte sofort und betonte, der Premierminister habe die aufwändige Renovation aus der eigenen Tasche bezahlt.
Die aufgrund von Boris Johnsons spektakulärer Impfoffensive in Rücklage geratene Labour-Opposition hingegen witterte ihre Chance. Parteichef Keir Starmer forderte eine Untersuchung. Es gehe um Integrität und Geld der Steuerzahler, sagte er am Samstag der BBC: «Jeden Tag gibt es mehr Beweise für diesen Filz. Ehrlich, es stinkt.»
Nur zwei Tage später folgte die nächste peinliche Enthüllung in Form der «Daily Mail»-Schlagzeile. Für Johnson und sein Umfeld ist laut britischen Medien klar, dass nur der rachsüchtige Dominic Cummings hinter dieser Kaskade stecken kann. Noch hat der Premier wenig zu befürchten. Er hat diverse Skandale und Skandälchen überstanden.
Ob das Wahlvolk auf die Entwicklungen reagieren wird, zeigt sich schon nächste Woche. Dann finden in Teilen Englands Kommunalwahlen statt (unter anderen in der Hauptstadt London). Auch werden die Regionalparlamente in Schottland und Wales neu gewählt. Die Corona-Pandemie ist laut Umfragen das mit Abstand wichtigste Thema.
Boris Johnson könnte am Ende durchaus als Sieger dastehen. Doch niemand weiss, was Dominic Cummings noch in der Hinterhand hat. Gegenüber den Medien will er sich laut seinem Blogpost nicht äussern. Dafür wird er am 26. Mai vor einem Unterhaus-Ausschuss Fragen zu diesen Themen beantworten, «so lange wie die Abgeordneten es wollen».