In weniger als drei Monaten tritt Grossbritannien aus der Europäischen Union aus. Und noch immer ist völlig unklar, wie der Brexit am 29. März ablaufen soll. Premierministerin Theresa May hat die für Dezember geplante Abstimmung im Unterhaus über den mit der EU ausgehandelten Austrittsplan auf den nächsten Dienstag verschoben. Eine Mehrheit aber ist nicht in Sicht.
May soll sich laut britischen Medien mit einer Niederlage abgefunden haben. Am Mittwoch wurde sie regelrecht gedemütigt. Das Parlament verdonnerte die Regierungschefin dazu, im Fall einer Ablehnung innerhalb von drei Sitzungstagen einen «Plan B» vorzulegen. Damit wollen die Abgeordneten verhindern, dass die Regierungschefin weiter auf Zeit spielen kann.
Das Chaos um den Brexit nimmt groteske Züge an. Ein ungeordneter Austritt mit potenziell gravierenden Folgen wird wahrscheinlicher. Die Unsicherheit schlägt auf die Wirtschaft durch. Britische Firmen zögern mit Neuanstellungen, und das Weihnachtsgeschäft stagnierte erstmals seit der Finanzkrise 2008. Jeder zweite Brite fürchtet, dass die Wirtschaft dieses Jahr schrumpft.
Mitten in diesen Wirrwarr platzte am Montag die Ausstrahlung des Films «Brexit: The Uncivil War» auf dem für seine Qualitätsprogramme bekannten Privatsender Channel 4. Es ist eine Mischung aus Dokudrama und Politsatire, wie sie (fast) nur die Briten beherrschen (das Drehbuch hat der Dramatiker James Graham verfasst). Im Zentrum steht ein Mann, den man bei uns kaum kennt.
Dominic Cummings war der Leiter und Chefstratege der «Vote-Leave»-Kampagne, die sich für den EU-Austritt einsetzte. Verkörpert wird er von Benedict Cumberbatch, dem wohl aufregendsten Schauspieler der Gegenwart. Das ist nicht ohne Pikanterie, denn er ist ein bekennender Brexit-Gegner. Trotzdem oder deshalb spielt er einmal mehr grandios.
Das erstaunt wenig (gibt es irgend etwas, das Cumberbatch nicht spielen kann?). Dominic Cummings erinnert an «Sherlock», die Rolle, der er seinen Durchbruch verdankt. Wie der fiktionale Detektiv ist der real existierende Politstratege ein «hoch funktionaler Soziopath»: Im Umgang eine menschliche Katastrophe, in der Sache ein brillanter Kopf.
Dabei will er den Job ursprünglich nicht. Auch die vom damaligen Premierminister David Cameron angesetzte Abstimmung ist ihm ein Gräuel. Sie sei «entzweiend», orakelt er weitsichtig. Dann stürzt er sich doch in die Arbeit. Mit zunehmender Dauer erkennt man: Das politische Ziel interessiert Cummings überhaupt nicht. Er will beweisen, dass man die Abstimmung gewinnen kann.
Dafür setzt er auf maximale Reduktion, im Gegensatz zur «Remain»-Kampagne, die von Camerons Kommunikationsdirektor Craig Oliver (Rory Kinnear) geleitet wird. Diese identifiziert sieben potenzielle Zielgruppen. Dominic Cummings hingegen macht es sich einfach: Je ein Drittel der Bevölkerung ist für oder gegen die EU. Relevant ist nur jenes Drittel, das unentschlossen ist.
Und während die Befürworter der EU-Mitgliedschaft die Köpfe der Menschen ansprechen wollen und dabei auf Wirtschaft und Arbeitsplätze setzen, zielt Cummings' Kampagne auf den Bauch, mit den Argumenten Geld und Zuwanderung. Fast nebenbei entwickelt der Chefstratege den ebenso simplen wie genialen Brexit-Slogan: «Take Back Control» – die Kontrolle zurückholen.
Dabei belässt es Cummings aber nicht. Er trifft sich auf konspirative Weise mit dem Chef der kanadischen Firma AggregateIQ. Dieser verspricht ihm drei Millionen «zusätzliche» Stimmen, «von denen die Gegenseite nicht einmal weiss, dass sie existieren». Gemeint sind Menschen, die sich von der Politik abgewendet haben und die mit Datamining mobilisiert werden sollen.
Spätestens hier wird es gruselig, denn man denkt unvermeidlich an die Skandalfirma Cambridge Analytica. Sie war ebenfalls in die «Leave»-Kampagne involviert und wird im Film erwähnt. Auch der ultrarechte US-Milliardär Robert Mercer, der wichtigste Unterstützer von Donald Trump, taucht auf. Und selbst Steve Bannon erscheint kurz als schattenhafte und entsprechend unheimliche Figur.
Am Ende des Films wird erwähnt, dass Cummings rund eine Milliarde (!) Botschaften an potenzielle Brexit-Befürworter versandt hatte, basierend auf den Daten von AggregateIQ und Cambridge Analytica. Doch wie im Fall von Trump gilt: Mit «Datenklau» allein lässt sich das Ergebnis nicht erklären. Man muss auch die Emotionen mobilisieren können.
Das «Remain»-Lager realisiert dies viel zu spät. Kurz vor der Abstimmung im Juni 2016 kommt es zu einem zufälligen und fiktiven Treffen zwischen Craig Oliver und Dominic Cummings in einer U-Bahn-Station, mit anschliessendem Bier im Pub. Dabei bringt es Oliver auf den Punkt: «Es geht bei dieser Abstimmung nicht um die Mitgliedschaft in einem Wirtschaftsraum. Sondern um die Seele der Nation.»
Es ist die Qualität von «Brexit: The Uncivil War», dass man in einem Moment über eine Pointe lacht und im nächsten einen eiskalten Schauer verspürt. Nicht alles ist gelungen. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Macher des Films den Brexit ablehnen. So werden prominente Befürworter wie Nigel Farage und Boris Johnson als Knallchargen dargestellt.
Das ist vor allem im Fall von Arron Banks problematisch, dem Multimillionär und wichtigsten Brexit-Geldgeber. Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen mutmasslicher Verletzung des Wahlgesetzes. Ausserdem soll sich Banks mit Vertretern der russischen Botschaft in London getroffen haben, auch wegen Geschäften in eigener Sache. Ein Schelm, wer an Donald Trump denkt.
Die Vorzüge des Films aber überwiegen bei weitem. Nach dem Ja zum Brexit stimmt nur einer nicht in den Jubel im «Leave»-Hauptquartier ein: Dominic Cummings. Erst jetzt scheint er realisiert zu haben, was er angerichtet hat. Der Brexit hat die britische Gesellschaft in zwei unversöhnliche Lager gespalten und das heutige Chaos ausgelöst.
«Brexit: The Uncivil War» (ein schönes und kaum übersetzbares Wortspiel) ist ein Lehrstück über die Gefährdung der Demokratie durch Populisten, die mit grenzwertigen Methoden Emotionen schüren. Und denen man mit Vernunft kaum beikommt. Denn wie formuliert es Cummings / Cumberbatch in der Eingangssequenz: «Jeder weiss, wer gewann. Aber nicht jeder weiss, wie.»