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Interview

So stark ist die neue Generation der Hamas

Brutale Kämpfer: «Die Hamas will Israel auslöschen. Deshalb verlangt sie gar nicht erst, dass Israel die besetzten Gebiete räumt», sagt Alain Finkielkraut im Interview.
In voller Montur: Ein Hamas-Kämpfer zielt mit seiner Waffe.Bild: imago
Interview

«Die Ideologie ist so präsent wie eh und je»: Wie stark ist die neue Generation der Hamas?

Nach dem Waffenstillstand feiern viele Palästinenserinnen und Palästinenser auf den Strassen in Gaza. Zur Freude mischen sich aber auch Ängste und viele Fragen. Nahost-Experte Ahmed Fouad Alkhatib ordnet ein.
22.01.2025, 09:51
Natasha Hähni / ch media
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Hunderte, wenn nicht Tausende Männer stehen am Sonntag um das Fahrzeug des Roten Kreuzes, mit dem die israelischen Geiseln – drei junge Frauen – aus Gaza gefahren werden. Viele von ihnen sind Hamas-Kämpfer, sie halten ihre Waffen vor, als wollten sie zeigen: «Wir sind noch hier!»

Wie stark ist die Hamas zurzeit noch, und wie geht es für den Gaza-Streifen weiter? Im Gespräch mit CH Media ordnet Ahmed Fouad Alkhatib die jüngsten Ereignisse ein. Der Nahost-Experte ist in Gaza aufgewachsen. Heute ist er Analyst im Atlantic Council, einem Thinktank in Washington DC.

Sie haben Familie in Gaza, wie geht es Ihren Angehörigen?
Ahmed Fouad Alkhatib: Sie sind müde, traurig, ängstlich, überfordert, aber auch hoffnungsvoll, dass dies jetzt das Ende der Gewalt ist. Mein Bruder hat mir erzählt, er müsse sich erst wieder an die Ruhe gewöhnen. Er sei sich nicht mehr gewohnt, dass keine Raketen und Kampfflugzeuge über seinem Kopf fliegen. Die Situation ist surreal.​

Auf den Bildern der Geiselübergabe sind viele jubelnde Menschen zu sehen, wie ist die Stimmung in Gaza?
Die Bilder der Geiselübergabe sind eine klare Machtdemonstration. Die Hamas versucht verzweifelt, zu zeigen, dass sie mit Gottes Hilfe den Krieg gewonnen und nun die Kontrolle über Gaza hat. Hinter den paar tausend Menschen, die jubelnd auf den Videos zu sehen sind, gibt es aber Abertausende, die stinksauer auf die Hamas sind, weil sie diesen Krieg mit den Attacken am 7. Oktober überhaupt gestartet haben. In lokalen Telegram-Kanälen kritisieren viele die Kämpfer dafür, dass sie die Freilassung der Geiseln so gefeiert haben. Die Aktion wird dort als idiotisch und unnötig bezeichnet.​

Die Hoffnung vieler ist, dass der Waffenstillstand den Beginn einer kompletten Abwendung der Kriegsstrategie ist. Die Realität zu akzeptieren, ist aber schwierig: Gaza ist komplett zerstört, es gibt keine Wirtschaft, die Überlebenden sind abhängig von Hilfsgeldern. Die Hamas hat keine Zeit verloren, ihre Macht in der Region wieder geltend zu machen. Sie hat bereits damit begonnen, Polizeipersonal in den gesamten Gaza-Streifen zu entsenden. Wir sind in vielerlei Hinsicht wieder am selben Punkt wie vor dem Krieg.

epa11840338 Destroyed buildings seen amid a ceasefire between Israel and Hamas, in Rafah, southern Gaza Strip, 20 January 2025. Israel and Hamas implemented the first phase of a hostage release and ce ...
Palästinenserinnen und Palästinenser laufen nach dem Waffenstillstand zurück in ihre Heimat – oder zu dem, was davon übrig geblieben ist.Bild: keystone

Ist ein definitiver Waffenstillstand unter diesen Bedingungen überhaupt möglich?
Ja. Die USA werden unter der neuen Trump-Regierung alles daransetzen, dass die Situation so ruhig wie möglich bleibt. Trotz interner Unstimmigkeiten wird sich Israel an die Vorgaben der Amerikaner halten müssen. Donald Trump ist in Israel sehr beliebt. Premier Netanyahu kann es sich nicht leisten, derjenige zu sein, der die Beziehung zu ihm verschlechtert.​

Wie geht es nun weiter?
Der neu abgeschlossene Waffenstillstand sieht in der nächsten Phase vor, dass sich Israel ganz aus dem Gebiet zurückzieht. Ich sehe kein Szenario, in dem die aktuelle israelische Regierung der Hamas erlauben wird, den Gaza-Streifen komplett autonom zu verwalten. Ganz ausgeschlossen ist die Weiterführung der Kämpfe also nicht. Ab dem Moment, an dem alle israelischen Geiseln frei sind, wird es für Israel aber schwierig, weitere Offensiven zu rechtfertigen. Es gibt für Israel militärisch nichts mehr zu holen.​

Das offizielle Ziel des Militärs lautet, die Hamas auszulöschen.
Das ist nur realistisch, wenn es eine Alternative gibt. Sei dies mit der palästinensischen Autonomiebehörde, die im Westjordanland regiert, oder mit anderen Akteuren, die an die Stelle der Terrormiliz treten würden. Derzeit gibt es keine klare Antwort auf die Frage.​

Ahmed Fouad Alkhatib ist Senior Research Fellow im amerikanischen Thinktank Atlantic Council.
Ahmed Fouad Alkhatib ist Senior Research Fellow im amerikanischen Thinktank Atlantic Council.Bild: zvg

In den letzten Wochen gab es mehrere Berichte über eine «neue Generation von Hamaskämpfern». Wie stark ist die Hamas zurzeit?
Die Hamas hat es geschafft, während des Krieges Tausende neue Mitglieder anzuwerben. Derzeit haben sie deutlich weniger Geld als vor dem Krieg, und sie können Waffen nicht mehr im grossen Stil schmuggeln, wie sie dies früher getan haben. Gleich stark wie vor dem Krieg zu werden, ist also schwierig. Die neuen Kämpfer sind auch nicht gleich gut trainiert. Dennoch: Genügend Kämpfer mit Waffen, Raketenwerfern und Granaten können grossen Schaden anrichten – zumindest als Kanonenfutter. Die Ideologie ist so präsent wie eh und je.​

Was kann man gegen die Radikalisierung tun?
Es wird schwierig sein, die Bevölkerung in Gaza zu entradikalisieren. Denn neben der Hamas tragen auch die Realität der Palästinenserinnen und Palästinenser im Gaza-Streifen zu dieser bei. Die Menschen sind isoliert, ihre Häuser sind zerstört, jeder hat geliebte Menschen verloren. All dies würde mit weiteren Kämpfen nochmals schlimmer werden. Das Ziel muss sein, dass dies der letzte Krieg in Gaza war und die Hamas nie mehr in die Position kommt, dem palästinensischen Volk ihren Willen aufzuzwingen.​

Vorausgesetzt, die Waffenruhe hält: Wie könnte eine Annäherung zwischen Gaza und Israel aussehen?
Beide Seiten wurden in den letzten Monaten darauf konditioniert, die andere als «das Böse» anzusehen. Bis beide das Trauma des anderen anerkennen, wird jegliche Zusammenarbeit unmöglich sein. Auf der Seite der Palästinenser braucht es einen Hoffnungsschimmer, ohne Hamas, ohne Radikalisierung, einen Weg zur Unabhängigkeit und Stabilisierung zu gehen. Auf der anderen Seite sind die Sicherheitsbedenken der Israelis legitim. Gaza ist seit dem Abzug Israels vor knapp 20 Jahren zu einer Drehscheibe für Extremismus und den Iran geworden. Beide Standpunkte müssen für das Vorantreiben eines unabhängigen Gaza anerkannt werden. Es gibt noch viel Arbeit.

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quelle: keystone / abed hajjar
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