Einberufen wegen seiner Französischkenntnisse, absolvierte der Russe Sergei Schirnow 1984 das Institut Andropow, die Kaderschmiede für Sowjetspione – und traf auf den späteren Präsidenten Wladimir Putin, der ebenfalls eine Karriere als KGB-Spion machen sollte.
In Moskau arbeitete Schirnow danach für den Sowjetgeheimdienst KGB in der Abteilung für Auslandsaufklärung, wo er sich um Südamerika kümmerte. 1990 besuchte im Auftrag des KGB die Pariser Eliteschule ENA; zur Tarnung betätigte er sich als Sprecher einer russischen TV-Sendung.
Nach einem Giftanschlag verliess Schirnow Russland 2001 und erhielt politisches Asyl in Paris. Seither arbeitet er dort unter anderem für den französischen Newssender LCI. Im Mai ist von ihm im Pariser Verlag Nimrod auf Französisch das autobiographische Buch «L’ éclaireur» (Der Späher) erschienen. CH Media konnte mit dem Ex-Spion sprechen.
Herr Schirnow, Sie sind einer der einzigen russischen Ex-Spione, die sich über ihre frühere Tätigkeit äussern. Warum tun Sie das?
Sergei Schirnow: Seitdem ich mein Land verlassen habe, spreche ich auch deshalb, weil ich in Opposition zum Putin-Regime stehe. Es führt heute einen ungerechten und überdies schlecht vorbereiteten Krieg, und der einzige Aggressor ist Putin.
Sie hatten ihn schon kennen gelernt, als Sie ein 19-jähriger Student waren. Wie kam es dazu?
Ich arbeitete 1980 als Freiwilliger für die Telefon-Auskunft der Olympischen Spiele von Moskau. Mit einem Franzosen sprach ich stundenlang am Draht. Das kam dem KGB suspekt vor, und einer seine Agenten überführte mich in die Lubjanka, den berüchtigten KGB-Sitz. Der kleine Mann in dem grauen Anzug hiess Wladimir Putin. Er hörte mir nicht einmal zu, sondern wollte mich partout als Systemfeind entlarven. Er genoss seine Macht, mit der er mir Angst zu machen versuchte. Und er war schon damals absolut borniert: Er hatte eine Idee, und die wollte er durchdrücken, obwohl er nicht das geringste Argument hatte.
Ein wenig wie heute im Ukraine-Krieg?
Genau. Putin sagt, er wolle die Ukraine «entnazifizieren». Bloss gibt es in Russland zehnmal mehr Neonazis. Mit Raumfahrtminister Dimitri Rogosin sitzt sogar einer in der Regierung. Putin hat keine Argumente. In meinem Verhör liess er erst dann – und zwar blitzartig – von mir ab, als ich nebenbei angab, ich kennte einen Enkel des Parteivorsitzenden Leonid Breschnew.
1984 kreuzten sich Ihre Wege erneut.
Ja, denn wir waren im gleichen Ausbildungsgang des Instituts Andropow, der KGB-Ausbildung. Ich sah Putin aber nur kurze Zeit. Nach einem Strassenkampf in Leningrad, bei dem er sich einen Arm brach, fiel er im KGB in Ungnade. Ein Bericht hielt fest, Putin habe insofern ein psychologisches Problem, als er die Folgen seiner Entscheide und Akte nicht abzuschätzen vermöge. Für Gefahren habe er kein Gefühl; das berge Risiken für ihn selbst, aber auch für den KGB. Der schob ihn jedenfalls nach Leningrad und dann in die DDR ab.
Ein Auslandeinsatz in der DDR, kam das nicht einer Beförderung gleich?
Nur scheinbar. In Wirklichkeit war die DDR-Provinz für Sowjetagenten ein Abstellgleis. Ganz anders Westberlin, das war damals ein internationales Spionagezentrum mit höchstem Agenten-Prestige. Nicht aber Dresden mit seinem fünfköpfigen Regionalbüro. Putin agierte dort nicht etwa als Geheimagent, sondern offen und unter seinem Namen als Stasi-Kontrolleur. Damit war seine Karriere als unerkannter Spion gescheitert.
Dafür brachte er es in der Politik bis zum Staatspräsidenten. Was hat er im Kreml von der KGB-Mentalität bewahrt?
Alles. Putin ist nie wirklich ein Staatschef geworden, der wie der Ukrainer Wladimir Selenski sein Land und sein Volk hinter sich geschart hat. In seinem Inneren bleibt er ein Chef der Tscheka, der politischen Polizei. Das Land führt er wie ein Politbüro, mit engsten Vertrauten, darunter Ex-Agenten und Leibwächter. Diese Leute infiltrieren die Politik, so wie der KGB früher andere Länder infiltrierte. Demokratisch ist das nicht.
Was denken Sie von den «Suiziden» mehrerer Oligarchen?
Ich glaube nicht an Selbstmord. Aber es gibt keine Beweise.
Haben Sie selber keine Angst, wenn Sie heute aus der Schule plaudern?
Mein Abgang war geregelt, ich verliess den Geheimdienst erst, als Michail Gorbatschow seine Auflösung angeordnet hatte. Dass ich heute spreche, stört viele, das stimmt. Aber ich folge der ehernen Regel der Schattendienste:
Wurden Sie nicht selber schon Opfer eines Vergiftungsversuchs?
Ja, 2001 in Moskau. Der Geheimdienst wollte, dass ich ihm wieder beitrete, aber ich war nicht bereit dazu und tat das auch kund. Das mochten sie gar nicht. Sie handelten nach allen Regeln der Kunst, sodass man nichts beweisen konnte. Ich verlor massiv an Gewicht, hatte nachts 40 Grad Fieber, lag schon fast im Sterben – doch die Ärzte fanden nichts. Eine Ärztin tippte auf Schwermetalle. Da sagte ich ihr am Telefon, das natürlich abgehört wurde, ich zöge aus meiner Wohnung aus und ginge für Blutproben nach Frankreich. Zwei Tage später erhielt meine Wohnung «Besuch», die Beschwerden hörten schlagartig auf.
Stimmt es, dass die russischen Geheimdienste heute mächtiger sind als zu Sowjetzeiten?
Auf jeden Fall. Stellt man die verdoppelte Beschäftigtenzahl dieser Dienste und die halbierte Bevölkerungszahl Russlands gegenüber der Sowjetunion in Rechnung, ergibt sich, dass allein der heutige Inlandgeheimdienst FSB viermal stärker ist als früher der KGB. Nur schon der Dienst zum Schutz des Präsidialamtes umfasst 10'000 Menschen.
Haben sich die Methoden unter Putin gewandelt?
Die Spione und Spitzel arbeiten wie früher mit ihren «Quellen». Verändert hat sich hingegen die Technologie. Die sozialen Netzwerke sind für die russischen Geheimdienste FSB (Inland), SVR (Ausland) und GRU (Militär) zum Schlachtfeld eines hybriden Krieges geworden. Sie betreiben Desinformation, Propaganda, Cyberattacken. Die Hacker der russischen Dienste sind dazu heute in der Lage, das Transportwesen oder die Spitäler eines ganzen Landes ausser Gefecht zu setzen.
Leidet die russische Armee in der Ukraine auch am Mangel von Aufklärungssatelliten?
Ja, von dem guten Dutzend russischer Beobachtungssatelliten sind nur noch zwei in Betrieb. Dagegen erhalten die Ukrainer Zielauskünfte von den Amerikanern. Das erklärt mit, was in der Ukraine abläuft.
Und die russischen Überschallraketen, funktionieren die?
Sie existieren, aber es mangelt den Russen an Wissenschaftern, um die Technologie zu meistern. Putin hat zwei, drei Prototypen dieser Superwaffen, mehr nicht. Sie verschlingen Unmengen an Geld.
Haben Sie die Probleme der russischen Übermacht in der Ukraine überrascht?
Überhaupt nicht. Putins Russland ist ein potemkinsches Dorf: Hinter den Fassaden hat es nichts. Die Armee verfügt zwar über mehr Mittel denn je, aber sie erweist sich als unfähig zu einer modernen Kriegsführung. Nicht einmal die Logistik hält Schritt. Putin missachtete die wichtigsten Kriegsregeln. So geht es, wenn sich ein Korporal für einen General wähnt, siehe Hitler.
Die russische Klammerbewegung scheint im Donbass immerhin vorwärtszukommen.
Aber nur, weil den Ukrainern die Mittel fehlen. Wenn sie neue Waffen erhalten, wird die russische Armee nicht mehr weiterkommen. Putin bliebe dann nur noch das nukleare Arsenal.
Könnte er es einsetzen?
Das ist nicht unmöglich. Wie ich vorher sagte: Putin vermag die Folgen seines Tuns nicht abzuschätzen. Das macht es so gefährlich. Zumal Putin wie gesagt starrsinnig ist und sich von nichts abbringen lässt.
Wie aktiv ist der russische Geheimdienst in der Schweiz?
Sehr aktiv. Neutrale Länder sind wichtige Spionagezentren, und in Genf gibt es viele internationale Organisationen. Das grösste Problem ist aber die Aufnahme grosser russischer Vermögen. Die Schweiz ist zu abhängig davon. Ich kenne die Lage in der Schweiz sehr gut, es gibt Banken für Russen, Privatkliniken für Russen. Der berühmte Pragmatismus der Schweizer hat sich in eine Abhängigkeit verwandelt. Das ist eine Falle.
Stimmt es, wie man hört, dass die Russen in der Schweiz 20 bis 30 Spione beschäftigen?
Vom Personal in der russischen Botschaft in Bern und den Konsulaten sind ein Viertel bis ein Drittel für den Geheimdienst tätig.