Bei der Gegenoffensive, die seit Anfang Juni läuft, ist die Ukraine auf diverse Schwierigkeiten gestossen. Die Verteidigungsanlagen, welche die Russen in den besetzten Gebieten aufgebaut hatten, bereiten den ukrainischen Truppen grosse Schwierigkeiten – unter anderem stossen die Truppen immer wieder auf grosse Minenfelder und Schützengräben.
Anfang September gelang es der ukrainischen Armee dann doch, eine Lücke in die erste Linie der russischen Defensive zu reissen. Die Kiewer Truppen erzielten im Osten des Landes einige Fortschritte und eroberten etwa das Dorf Robotyne in der Region Saporischschja zurück. Sind diese Erfolge der letzten Wochen ein Wendepunkt? Und wie geht es weiter? So schätzt Alexandre Vautravers, Chefredaktor der «Revue militaire Suisse», dem Westschweizer Equivalent zur «Schweizerischen Militärzeitschrift», die Situation ein.
Herr Vautravers, wie beurteilen Sie die Lage in der Ostukraine?
Alexandre Vautravers: An die Gegenoffensive glaubt niemand mehr so recht. Ja, den Ukrainern gelang es, einige Erfolge zu feiern und einen begrenzten Frontabschnitt in einer sehr gut vorbereiteten Verteidigungslinie zu durchbrechen. Aber das taten die Briten und Franzosen im Ersten Weltkrieg auch schon, ohne dass es danach zu grösseren Erfolgen kam. Nun gilt es, diesen positiven Ausgang zu nutzen, denn dieser kann sehr wichtig sein.
Ist die ukrainische Armee in der Lage, dies zu tun?
Die Streitkräfte brauchen besser ausgebildete Truppen und Stäbe, die in der Lage sind, komplexe Operationen zu planen, nicht nur eine koordinierte Aktion von wenigen Stunden, wie es derzeit der Fall ist. Zuletzt wurden die Defizite der ukrainischen Armee sichtbar. Die im Winter von westlichen Ländern durchgeführten Ausbildungen waren kurz und reichten nicht aus, um die Mängel zu beheben.
Wie können die ukrainischen Streitkräfte diese Probleme lösen?
Übung macht den Meister. Nur durch die Erfahrung im Feld kann man sich wirklich weiterentwickeln und verbessern. Nach können so bessere Ergebnisse erreicht werden. So wächst wiederum das Selbstvertrauen. Es reicht nicht, sich nun zurückzuziehen und versuchen, sich weiter auszubilden. Man muss weiterkämpfen.
Auch wenn die Ergebnisse der Gegenoffensive gemischt sind?
Ja, die Ukraine muss die Angriffe aufrechterhalten, sie muss weiterhin Druck auf die russischen Streitkräfte ausüben. Kiew kann sich nicht in Verteidigungspositionen einrichten, auch wenn dies vielleicht einfacher ist und weniger Menschenleben kostet. Psychologisch, mental, politisch, diplomatisch und strategisch würde dies bedeuten, sich mit der Niederlage der Ukraine abzufinden. Das Ziel ist es, die von Moskau besetzten Teile seines Territoriums zurückzuerobern. Nur durch das Verlegen von Minen und das Ausheben von Schützengräben innerhalb des eigenen Territoriums kann dieses Ziel nicht erreicht werden.
Auch wenn dies mit erheblichen Verlusten verbunden ist?
Die ukrainische Armee hat beschlossen, anstelle einer grossen Offensive eine Reihe kleinerer Operationen durchzuführen, um die Lage etwas genauer einschätzen zu können. Das kostet Menschenleben, Munition und Material. Die ukrainische Führung muss abwägen, wie viele dieser Offensiven sie sich gleichzeitig leisten kann, bevor die Verluste so gross werden, dass sie die Widerstandsfähigkeit des Landes gefährden.
Besteht nicht die Gefahr, dass der Ukraine die Männer ausgehen?
In Russland wird schon länger behauptet: Die Ukraine mit ihren 40 Millionen Bewohnern kann nicht mit Russland mit seinen 100 Millionen Bewohnern konkurrieren. Aber: Die beiden Streitkräfte auf dem Schlachtfeld sind praktisch gleichwertig. Die Zahl der Berufssoldaten hat auf beiden Seiten stark abgenommen. Und die Motivation der Ukrainer, die für ihre Unabhängigkeit und ihr Land kämpfen, ist besser als derjenige von Wehrpflichtigen, die aus dem tiefsten Russland eingezogen werden.
Ist das Ausmass der ukrainischen Verluste bekannt?
Wladimir Putin behauptete kürzlich, dass die Ukraine seit Beginn des Kriegs 71'000 Mann verloren habe. Oft werden die von Russland verbreiteten Zahlen als falsch betrachtet, doch in diesem Fall ist die Zahl niedriger als in den meisten westlichen Schätzungen angenommen. Denn diese gehen von rund 140'000 Opfern aus. Das ist tragisch: Diese Zahl ist doppelt so hoch wie die Verluste, welche die USA in zehn Jahren in Vietnam erlitten haben. Gleichzeitig muss gesagt werden: Die ukrainische Armee hat fast eine Million Soldaten mobilisiert. Es gibt noch Reserven. Zudem ist bekannt, dass die Ukrainer in der Lage sind, schnell neue Soldaten auszubilden, bis zu 200'000 alle sechs Monate. Das bedeutet, dass die ukrainische Armee in einem Jahr potenziell 400'000 Soldaten mehr umfassen könnte. Auf russischer Seite wurden die Pläne zur Mobilisierung einer neuen Welle von 450'000 Reservisten und Wehrpflichtigen aus Angst vor den politischen und sozialen Folgen aufgegeben.