Wer ist eigentlich der grössere Verlierer des versuchten Coups in Russland? Wladimir Putin oder Xi Jinping?
Marina Rudyak: China hat eine sehr lange Grenze zu Russland. Chaos in Russland ist für Peking daher ein Albtraum. Ein Machtkampf im Stile der Mafia macht Russland sehr unberechenbar. In einem Kommuniqué der chinesischen Regierung hiess es daher: «Wir brauchen mehr Koordination.» Das ist ein sehr starkes Zeichen, dass die chinesische Regierung überhaupt nicht glücklich ist ob der Situation.
Historisch gesehen sind Russen und Chinesen nicht immer gute Freunde gewesen.
Rudyak: China wird versuchen, eine freundschaftliche Beziehung zu Russland aufrechtzuerhalten. Die Spannungen, von denen Sie sprechen, stammen aus der Zeit von Mao und waren ideologisch motiviert.
Zwischen Xi und Putin soll angeblich auch eine persönliche Freundschaft herrschen. Der chinesische Präsident hat gar erklärt, man wolle zusammen «bisher nicht gesehene Veränderungen in der Welt» bewirken. Sind diese Pläne angesichts der offensichtlichen Schwäche Russlands nicht zu Makulatur geworden?
Rudyak: Ich würde die angebliche persönliche Freundschaft der beiden nicht überbewerten. Ich finde sie wenig überzeugend. Xi wurde ja ursprünglich nicht über die russischen Kriegspläne informiert. Behandelt man so seinen besten Freund?
Noah Barkin: Ich denke, Xi hat wenig Interesse daran, dass Putin gestürzt wird. Xi befürchtet auch, dass ein Machtkampf im Kreml dazu führen könnte, dass Russland mehr Hilfe von China verlangt. Das wiederum könnte katastrophale Folgen für Chinas wirtschaftliche Beziehungen zu Europa haben. Das sind jedoch derzeit noch Spekulationen. Fest steht einzig, dass Putin wegen des versuchten Coups geschwächt worden ist.
Xi hat ebenfalls hoch gepokert, indem er auf die Karte Putin gesetzt hat. Er hat seine wichtigsten Handelspartner verärgert. Und nun versagt der russische Präsident. Xi muss sich doch verschaukelt vorkommen, oder nicht?
Rudyak: So viel hat Xi nicht riskiert. Das Verhältnis zu den USA war eh schon mehr schlecht als recht. Wir erleben einen geopolitischen Machtkampf, der nur begrenzt etwas mit der Ukraine zu tun hat. Auch mit der EU, speziell mit dem östlichen Teil, haben sich Chinas Beziehungen merklich abgekühlt.
Mark Leonard hat in «Foreign Affairs» die These aufgestellt, wonach China derzeit an einem geopolitischen Chaos interessiert sei. Teilen Sie diese These?
Barkin: Die kommunistische Partei von China will nicht Chaos, sondern Stabilität. Ich teile die These nicht, wonach der Westen den bestehenden Zustand erhalten möchte und China sich Chaos wünscht.
China glaubt, einen Niedergang des Westens, vor allem der USA, zu beobachten, und bildet sich deshalb ein, die Zeit sei auf seiner Seite.
Rudyak: China hat zudem enorm von der bestehenden Weltordnung profitiert. Partei und Regierung haben mit ihrem Volk eine Art Vertrag abgeschlossen, der lautet: Wir sorgen für Wohlstand und ihr haltet euch von der Politik fern. Deshalb sind sie an stabilen wirtschaftlichen Beziehungen interessiert.
China möchte aber auch die Supermacht USA vom Thron stossen und eine multipolare Welt installieren.
Rudyak: China will nicht die neue Nummer eins werden, denn die Nummer eins zu sein ist mit sehr hohen Kosten verbunden. Deshalb strebt China eine multipolare Welt an, eine Welt mit verschiedenen Einfluss-Sphären und gemeinsamen Regeln.
Nun, die Nummer eins mit einer globalen Leitwährung zu sein, hat auch seinen Charme. Anyway, China ist nicht allein mit seinem Wunsch nach einer multipolaren Welt. Indien macht zunehmend auch Ansprüche geltend. Wie ist das zu bewerten?
Barkin: Indien ist stolz darauf, an keine Macht gebunden zu sein. Doch der kürzliche Besuch von Premierminister Narendra Modi in den USA ist ein Indiz, dass sich Indien vermehrt dem Westen zuwenden will.
Indien hat Putins Krieg gegen die Ukraine jedoch bisher nicht verurteilt.
Barkin: Indien ist durch die Ereignisse an seiner Grenze zu China aufgeschreckt worden. Das hat eine neue Zuwendung zum Westen bewirkt. Das heisst jedoch nicht, dass sich Indien als ein Teil des westlichen Bündnisses empfindet.
Indien verhält sich jedoch auch sehr opportunistisch. So ist es einer der Gewinner des Krieges in der Ukraine, weil es sehr günstig russisches Öl importieren kann. Und Indien strebt ebenfalls eine multipolare Welt an, in der es sich als Anführer der Schwellenländer sieht.
Barkin: Indien wird sicher so viel Autonomie wie möglich anstreben. Doch Indien ist auch die Alternative zu China im indischen Pazifik. Und das ist genau das, wonach die USA und Europa derzeit Ausschau halten.
Der amerikanisch-indische Ökonom Ashoka Mody hat soeben ein Buch mit dem Titel «India is broken» veröffentlicht, eine niederschmetternde Abrechnung. Ist es nicht ein bisschen früh, auf Indien als Alternative zu China zu setzen?
Barkin: Ich denke nicht, dass sich der Westen ein naives Bild von Indien macht. Wir alle wissen, dass das Land noch sehr viel aufholen muss. Washington sieht Indien noch nicht als Alternative zu China, aber es sieht, was Indien für ein Potenzial hat. Deshalb drückt man auch das eine oder andere Auge zu, wenn es um die Probleme geht, die Indien noch hat.
Zurück zu China: Wie ist der kürzliche Besuch des amerikanischen Aussenministers Anthony Blinken in Peking zu bewerten?
Barkin: Es geht darum, die Rivalität zwischen den USA und China vernünftig zu managen. So gesehen war dieser Besuch wichtig und er erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich am Treffen der Apec im November die beiden Staatsoberhäupter Xi Jinping und Joe Biden persönlich treffen werden. Auch auf anderen Ebenen werden wieder vermehrt Treffen stattfinden. Leider ist es jedoch immer noch so, dass kleine Zwischenfälle wie derjenige mit dem Spion-/Wetter-Ballon grosse Wirkung haben können.
Verhindert nicht die aufgeheizte, ja teilweise geradezu hysterische Stimmung gegenüber China in den USA einen sinnvollen Dialog?
Barkin: Die Biden-Regierung kennt die Risiken einer Eskalation sehr gut. Aber sie macht einen guten Job und unternimmt Schritte, die eine Fortsetzung des Dialogs mit Peking ermöglichen. Sie nimmt dabei in Kauf, dass sie deshalb von rechts beschuldigt wird, China zu verhätscheln. Allerdings, je näher die Wahlen kommen, desto schwieriger wird es werden, diese Politik aufrechtzuerhalten.
Wirtschaftlich gesehen ist wenig von einer Annäherung zu spüren. Der sogenannte «Chip War» ist nach wie vor im Gang.
Barkin: Ja, aber mittlerweile spricht man im Westen nicht mehr von einer Abkoppelung von China, sondern von einem «Derisking», also davon, die Risiken zu minimieren. Wichtig dabei ist vor allem, wo die roten Linien gezogen werden. Dabei gibt es auch Differenzen zwischen den USA und Europa. Ich gehe davon aus, dass die Biden-Regierung im Laufe des kommenden Jahres Regeln für den Umgang mit China erlassen wird.
In Peking wird man dies als Gängelung empfinden, als eine neue Form eines «containments», der Politik, mit der man einst die Sowjetunion in Schranken gehalten hat.
Barkin: Ich denke nicht, dass die Biden-Regierung so weit gehen wird. Kommt dazu, dass die chinesische Wirtschaft derzeit schwächelt und auf die Absatzmärkte im Westen angewiesen ist.
So lange ist es nicht her, da wurde noch von Chimerica gesprochen, einem harmonischen Verhältnis zwischen den USA und China zum Nutzen beider. Warum ist dieses Verhältnis eigentlich in die Brüche gegangen?
Barkin: Beim «Chip War» geht es vor allem um die Frage der nationalen Sicherheit. Sonst möchte die Biden-Regierung den Handel mit China so offen wie möglich halten, nicht zuletzt auch deshalb, weil es auch darum geht, die Verbündeten in Europa bei der Stange zu behalten. Deshalb hat die US-Regierung einige geplante Massnahmen nicht umgesetzt.
Weshalb ist für Peking die Taiwan-Frage so ungeheuer wichtig?
Rudyak: Peking befürchtet, dass sich die USA in der Taiwan-Frage immer stärker den von China gezogenen roten Linien nähern. Für China ist die Einheit des Reiches historisch gesehen von grosser Bedeutung, und das historische Gedächtnis spielt auch in der Gegenwart eine grosse Rolle. Doch was den Zeitrahmen für eine Integration Taiwans ins chinesische Reich betrifft, sehe ich keine Veränderungen.
Also keine militärischen Angriffe auf die Insel?
Rudyak: Nein, das hätte zur Folge, dass die gesamte Wirtschaft auf dieses Ziel ausgerichtet werden müsste. Zudem müsste eine Kriegspropaganda im grossen Stil einsetzen. Davon ist nichts zu spüren. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass China militärische Schritte unternehmen wird.
Welche Schritte sind wahrscheinlich?
Rudyak: Peking wird vermehrt die Zusammenarbeit mit der Kuomintang-Partei suchen und die Wahlen zu deren Gunsten beeinflussen. Diese Partei setzt sich für eine Integration in China ein.
Erstaunlich, war es doch diese Partei, die sich einst in einem Bürgerkrieg mit den Kommunisten befand. Aber ist es nicht auch Xis grosser Traum, Taiwan heim ins Reich zu holen?
Rudyak: Xi hat keinen Zeitplan für diese Integration. Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass es schon mehrmals Krisen um Taiwan gegeben hat. 1995 ist es beinahe zu einer militärischen Intervention gekommen.
Chinas Wirtschaft geht es derzeit nicht so gut. Könnte es auch sein, dass die Regierung davon ablenken will, indem sie die Taiwan-Frage forciert?
Rudyak: Dann müsste es eine gross angelegte Propaganda für eine Wiedervereinigung geben. Das ist nicht der Fall.
Die Angst vor einem militärischen Konflikt um Taiwan ist somit übertrieben?
Rudyak: Die Angst ist nicht übertrieben. Wir befinden uns in einem Sicherheits-Dilemma. Beide Seiten befürchten eine Eskalation der anderen Seite. Eine ähnliche Situation hat seinerzeit zum Ersten Weltkrieg geführt. Eine chinesische Strategie zur Eroberung von Taiwan kann ich nicht erblicken.
Barkin: China muss zudem nicht zwingend Taiwan direkt angreifen. Es könnte kleine Nadelstiche verabreichen, kleine Inseln in der Umgebung angreifen etc. Der Westen fürchtet sich vor allem davor, dass China die Schlinge um Taiwan immer weiter zuziehen wird.
China spricht zwar davon, dass sich der Westen im Niedergang befindet. Doch demografisch ist das Gegenteil der Fall. China wird möglicherweise alt, bevor es reich wird. Oder nicht?
Barkin: Will China vermeiden, dass es in die «Falle der mittleren Einkommen» fällt, dann braucht es umfassende Veränderungen der Wirtschaft. Das gigantische Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte war getrieben von massiven Investitionen in die Infrastruktur.
Und ewig kann man ja nicht neue Hochgeschwindigkeits-Züge bauen.
Barkin: Ja. Es ist daher nicht so sehr die Demografie, welche zum Problem für China wird, sondern die Struktur der Wirtschaft. Eigentlich müsste die Wirtschaft offener werden, doch Xi geht in die entgegengesetzte Richtung. Er setzt auf mehr Kontrolle des Staates. Deshalb halten sich ausländische Investoren vermehrt zurück und weichen auf Länder wie Vietnam oder Malaysia aus. Noch mehr Ausgaben für die Infrastruktur sind keine Lösung mehr für die Regierung. Es braucht grundlegende Reformen.
Nochmals zurück zu Russland. Angenommen, Putin wird gestürzt. Was würde das für China bedeuten?
Rudyak: Ich wage gar nicht, daran zu denken. Die Vorstellung, Prigoschin könnte die Kontrolle über die Atomwaffen erhalten, ist ein Albtraum. Was sich jetzt in Russland abspielt, mag gut sein für die Ukraine. Für China und den Rest der Welt ist es nicht so gut.
Barkin: Es ist zu früh, um sinnvoll Szenarien zu entwerfen.
Allerdings. Für den ehemaligen chinesischen Aussenminister Zhou Enlai war es selbst für eine Bewertung der Französischen Revolution noch zu früh.
Barkin: Ja. China will, wie erwähnt, vor allem Stabilität und setzt daher darauf, dass Putin an der Macht bleibt.
All die Machthungrigen in Russland werden sich neu positionieren wollen.
Zudem darf man Russland nicht als normalen Staat ansehen.
Es ist eine Mafia mit Territorium und Nuklearwaffen.
Es hat halt niemand gerne Leute als Nachbarn die mit militärischen Mitteln Grenzen verschieben (wollen)