Der Mann mit den kurzen Haaren und dem Vollbart hat tiefe Ränder unter den Augen. Vielleicht waren die vergangenen zwei Tage die schlimmsten, die Dr. Assim al-Hadsch in seinem Leben durchmachen musste.
Seit der fürchterlichen Explosion im Hafen von Beirut hat er nur zwei Stunden geschlafen. Stattdessen: Operationen am Fliessband im Clemenceau Medical Center unweit der Detonation. Fast 400 Verletzte wurden eingeliefert, 80 befinden sich noch in kritischem Zustand: «Ich kann Ihnen sagen: Die Situation ist katastrophal», sagt der Mediziner mit brüchiger Stimme.
Die gewaltige Explosion hat grosse Teile der sonst lebendigen Stadt am Mittelmeer in eine Trümmerlandschaft verwandelt. Der Hafen liegt in Schutt und Asche. Die Wucht der Detonation hat auch die umliegenden Wohngebiete erfasst: Fensterscheiben sind zersplittert, Schilder und Fensterläden abgerissen, Fassaden zerstört, Autos umgekippt, Menschen weggefegt.
Noch immer sind die Strassen mit Glassplittern übersät. Auch die Suche nach Opfern geht weiter. Mehr als 130 Tote und rund 5000 Verletzte wurden bislang gezählt. Die Zahlen dürften steigen.
Libanons Gesundheitssystem stand wegen einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise und der Corona-Pandemie schon vor der Explosion am Rande des Kollapses. Ein Grossteil der medizinischen Güter muss aus dem Ausland importiert werden.
Es gebe grosse Versorgungsengpässe und zu wenig Benzin für die Generatoren, sagt Dr. Al-Hadsch, medizinischer Direktor des Zentrums. Wegen der Dollar-Knappheit im Land könnten keine Vorräte mehr gekauft werden: «Trotz der Schwierigkeiten haben wir es aber geschafft, mit der Lage fertig zu werden», sagt er.
Schwer getroffen werden auch die mehr als eine Million syrischen Flüchtlinge im Land, von denen viele seit Jahren in Armut leben, ohne Aussicht auf Besserung. «Die Explosion hat mich an die schweren Bombardierungen in meiner Heimatstadt Aleppo erinnert», sagt die 40 Jahre alte Instar al-Salih aus Nordsyrien, die mit ihren fünf Kinder in einem Raum unweit des Katastrophenortes lebt.
«Das ganze Fenster stürzte auf uns herab.» Die UN warnen zudem, dass auch die humanitäre Lage im benachbarten Bürgerkriegsland bedroht ist, weil sie nicht zuletzt über den jetzt zerstörten Beiruter Hafen lief.
Aus fast jedem Satz der Menschen im Libanon sind Verzweiflung und Frust herauszuhören. Viele Libanesen haben zwischen 1975 und 1990 einen blutigen Bürgerkrieg erlebt. Doch selbst sie sagen: Die Detonation im Hafen ist das Schlimmste, was ihnen widerfahren ist.
Seit Monaten leidet das Land am Mittelmeer ohnehin unter einer schweren Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie weiter verschärft wurde und grosse Teile der Bevölkerung in Armut getrieben hat.
Die Preise, etwa für Lebensmittel, sind explodiert. Im Juni lag die Inflation bei 90 Prozent. In den sozialen Medien boten viele in den vergangenen Wochen ihr Hab und Gut an, um noch irgendwie über die Runden zu kommen.
Und jetzt diese Explosion, diese Zerstörung. Und kein Geld für einen Wiederaufbau. «Wir sind einfach nur erschöpft», sagt eine Frau aus Beirut. «Wir waren schon vorher am Abgrund.»
In die Verzweiflung mischt sich wachsende Wut auf die politische Elite. Sie brach sich am Donnerstag Bahn, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Ort der Katastrophe besuchte, begleitet von seinem libanesischen Kollegen Michael Aoun. «Ihr seid alle Mörder», schreit eine aufgebrachte Frau von ihrem Balkon. «Wo wart Ihr gestern?» Später brüllte die Menge: «Aoun, Du bist ein Terrorist.»
Schon im vergangenen Oktober hatten Massenproteste begonnen, die ein neues politisches System forderten. Die Korruption ist im Libanon allgegenwärtig und hat massgeblich zum Verfall des Landes beigetragen.
Die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise geht nicht zuletzt zurück auf eine Art Schneeballsystem über Staatsanleihen, mit dem sich die Elite über Jahre hemmungslos an den knappen Ressourcen bedient hat.
Den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete kann der Libanon nur mit internationaler Hilfe schaffen. Die Schäden gehen in die Milliarden. Kritiker werfen der Elite vor, sie wolle nur ihren Reichtum retten, nicht einen Staatszerfall verhindern. Reformen scheiterten auch an der ohnehin komplizierten Machtverteilung in dem kleinen Land.
Sie geht auf ein Proporzsystem aus dem Jahr 1943 zurück, das bislang als unantastbar gilt. Aufgeteilt ist die Macht unter den Konfessionen: Der Präsident muss immer ein Christ sein, der Regierungschef ein Sunnit, der Parlamentspräsident ein Schiit.
Doch das Land ist auch über die Konfessionsgrenzen hinweg gespalten. Ein starker Flügel ist eng mit dem schiitischen Iran und Syrien verbunden, andere richten sich gen Westen oder dem sunnitischen Saudi-Arabien aus. Und mittendrin sitzt die mächtige Hisbollah.
Die schiitische Organisation, treu mit dem Iran verbunden, bildet im Libanon einen Staat im Staate. Sie kontrolliert etwa das Grenzgebiet zum verfeindeten Nachbarn Israel im Süden des Libanons. Die Hisbollah gehört auch der Regierung an - gegen sie und ihren charismatischen Anführer Hassan Nasrallah kann keine Politik gemacht werden.
Das spürten auch die Demonstrierenden, die in den vergangenen Monaten auf die Strasse gingen. Trupps der Hisbollah liefen mehrfach auf – eine eindeutige Warnung an die Protestierenden, es mit den Forderungen nach Reformen nicht zu übertreiben.
Die Macht der Hisbollah, das war die Botschaft, darf nicht angetastet werden. Ohne Reformen aber dürfte die internationale Gemeinschaft nur zögerlich Geld geben. (sda/dpa)
Dem Artikel fehlt aber ein Abschnitt über das Solidaritätsgeheuchel irgendwelcher Promis und Superreicher und ich nehme an das liegt nicht am Verfasser.
Da fehlt das Geld... aber WEHE es brennt eine europäische Kathedrale, da Reihen sich die Begüterten dieser Welt mit Händen voller Kohle ein um zu Helfen.
So ein Geheuchel, man sollte denen gleich denselben Betrag nochmal abziehen und zwangsspenden.