Es gebe, sagte Astrid Lindgren schon 1970, «eine Menge idiotischer Dinge», die man in ihrem Klassiker «Pippi Langstrumpf» streichen könnte. Als das Buch 1945 erschien, standen darin Wörter wie «Neger» oder «Zigeuner», die in Europa noch gebräuchlich waren.
Lindgren betonte, sie habe nie geglaubt, Weisse seien den Schwarzen überlegen. «Rassistische Tendenzen» waren ihr fremd. «Und Pippi hatte auch keine. Aber die Zeiten haben sich geändert.»
Allerdings kam es erst 2009, nach Astrid Lindgrens Tod, zu einzelnen von ihren Nachfahren abgesegneten Umschreibungen. Pippis Vater wird vom «Negerkönig» zum «Südseekönig». Auch Zigeuner kommen nicht mehr vor. Doch kurz darauf meldeten sich neue Bedenkenträgerinnen, die sich auch am «Südseekönig» störten.
In kolonialer Manier reise Pippis Papa eben nach Ozeanien und werde König von Taka-Tuka-Land. Als Lindgren das schrieb, seien die Unabhängigkeitsbewegungen in Asien und Afrika bereits in Gang gewesen. Die schwedische Autorin hätte also wissen können, dass sie eine koloniale Denkweise bestätige, gegen die es längst Widerstand gab.
Als die Debatte über Sinn und Unsinn von bereinigten Kinderbuchklassikern um 2010 ein erstes Mal ausbrach, betraf sie neben Astrid Lindgren auch Otfried Preussler («Die kleine Hexe», «Räuber Hotzenplotz») oder Michael Ende («Jim Knopf»).
Preussler selbst entschloss sich noch zu Korrekturen. Damals schon gab es viel Kopfschütteln über den Furor, in den sich eine politisch korrekte «Empfindsamkeitspolizei» hineinsteigerte und überall Textverbesserungen verlangte.
Doch die Umschreibungen waren noch harmlos im Vergleich zu den Hunderten von Eingriffen, die nun Roald Dahls Werke, allen voran der Kinderbuchklassiker «Charlie und die Schokoladenfabrik», über sich ergehen lassen mussten. Tollwütige Sensitivity Reader tauschten nicht nur Wörter wie «fett» oder «idiotisch» aus, sondern fügten ganz neue Ideen ein, weil Dahls eigene Einfälle irgendjemanden kränken könnten.
Nachdem selbst der britische Premier Rishi Sunak und Schriftsteller wie Salman Rushdie die «absurde Zensur» beklagt hatten, entschied sich der Verlag Puffin Books vor wenigen Tagen, fortan die Originalfassung und die purgierte woke Version nebeneinander zu verkaufen. Es gibt allerdings bereits Befürchtungen, digitale E-Books könnte bald automatisch und ohne Einwilligung der User «aktualisiert» werden.
Im Fall von Roald Dahl überwiegen ökonomische Interessen. Die Rechte an seinen Werken hat Netflix 2021 erworben. Und das Streaming-Unternehmen befürchtet, dass sich die Cancel Culture vor allem in den USA an Dahls Büchern festbeissen könnte. Lieber tilgt man alles Unkorrekte und Unverschämte vorsorglich.
Doch erziehen wir unsere Kinder tatsächlich zu stubenrein woken Wesen, wenn wir ihnen möglichst woke Werke vorsetzen? Nein, wir langweilen sie nur, wenn wir Kinderbücher lediglich als ein Mittel zur Erziehung einsetzen.
Das Pädagogische schadet jeder guten Literatur, auch der Kinderliteratur, die immer Kunst bleibt, wenn sie gut ist. In ihr sollen die Kinder keine geschützte und ideale Welt vorfinden.
Bücher vorlesen ist ein Spiel, das die Kinder mit allen Facetten der Wirklichkeit vertraut macht, mit dem Guten und Bösen, mit Witzigem und Traurigem, auch mit Fantastischem und Anarchischem. Kinder können sich in Tiere verwandeln, es gibt Hexen, die Zigarre paffen, böse Tanten werden bei Dahl von einem Riesenpfirsich überrollt, und ein Junge wird «entsaftet». Sensible Erwachsene mögen das makaber finden, Kinder haben meist Spass daran.
Das zeichnet grosse Autorinnen und Autoren von grosser Kinderliteratur aus. Ihre Bücher werden zwar meist von Erwachsenen gekauft, sind aber nicht für sie geschrieben.
Roald Dahl sagte immer wieder, es sei ihm «völlig egal», was die Erwachsenen über seine Geschichten denken. Er denke nur immer daran, die Kinder gut zu unterhalten. Der Erfolg gibt ihm bis heute recht. (aargauerzeitung.ch)