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Cancel Culture: Studie sagt, dass es oft um Aufmerksamkeitsökonomie geht

Cancel Culture: Alles nur moralische Panikmache von weissen, alten, rechten Männern?

Eine neue Studie von Stanford Professor Adrian Daub kommt zum Schluss, dass es bei der Cancel Culture häufig weniger um verhinderte Redefreiheit geht als vielmehr um Aufmerksamkeitsökonomie.
03.12.2022, 22:56
Julian Schütt / ch media
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Cancel Culture Symbolbild
Cancel Culture: Eine Frage der Aufmerksamkeitsökonomie.Bild: Shutterstock

Immer wieder höre ich, mein Asthma sei psychosomatisch bedingt, also mehr oder weniger Einbildung. Ich müsse nur richtig atmen lernen und die Ernährung umstellen, dann verschwinde es, ebenso all meine Allergien. Allergisch bin ich seit je gegen jede Form von Cancel Culture. Und was legt mir die neue Studie zur Cancel Culture von Literaturprofessor Adrian Daub nahe? Das versteht sich von selbst: einfach ruhig weiter atmen. Cancel Culture ist hauptsächlich Einbildung.

Der 42-jährige, in Köln geborene Daub von der renommierten kalifornischen Stanford University sagt, beim ganzen Cancel-Culture-Hype handle es sich um eine moralische Panik, welche gerade die Welt erfasst. Vor allem weisse, alte, rechte Männer, nennen wir sie WAR-Männer, hätten Angst vor ihr und würden deshalb aus aufmerksamkeitsökonomischen Gründen das Cancel-Culture-Geschwätz anheizten, damit man ihnen überhaupt noch zuhört.

Ist wirklich eine «linke Gesinnungspolizei» am Werk?

Genauso hätten die WAR-Männer seit den Neunzigerjahren den Vorläuferbegriff der Political Correctness aus den USA importiert, um als letzte liberale Verteidiger der Meinungsfreiheit gegen die neue «linke Gesinnungspolizei» vorzugehen. Daub weist nach, wie den konkreten Vorwürfen gegen Cancel Culture meist belanglose «Anekdoten», wie er es nennt, zugrundeliegen, aus denen Schlüsse von grosser Tragweite abgeleitet werden, als sei das Erbe der westlichen Aufklärung in Gefahr.

Die letzten Cancel-Culture-Debatten in der Schweiz bestätigen dies. An sich waren es nichtige Anlässe: Es ging um unbekannte Musiker, die in Bern und Zürich ausgeladen wurden, weil sie Dreadlocks trugen und weil die Veranstalter darin einen Akt von kultureller Aneignung sahen. Auch ich habe das lächerliche Canceln der Auftritte bedauert, aber geschlottert habe ich eigentlich nicht vor Angst, dass wegen dieser Bagatellen gleich der Untergang der liberalen Demokratie drohe. Ein «Wehret den Anfängen»-Reflex meldet sich trotzdem jedes Mal, wenn irgendwo ein Cancel-Culture-Ereignis stattfindet.

Entlarvt mich das schon als WAR-Mann? Mein Ärger ist nicht der eines Rechten oder Linken, sondern eines Kulturjournalisten. Und ich gestehe, ich habe die Cancel Culture bis jetzt gar nicht so ausschliesslich als Spielwiese von WAR-Männern gesehen. Natürlich gibt es eine rechte Anti-Tugendterror-Altmännerriege, bestehend aus Thilo Sarrazin, Ulf Poschardt oder Jan Fleischhauer und manchen Weltwoche- und NZZ-Redaktoren.

Aber auch Journalistinnen in linken und linksliberalen Medien haben sich kritisch zur Cancel Culture geäussert. Zwei der temperamentvollsten Attacken habe ich von der französischen Autorin und Feministin Caroline Fourest und der gewiss nicht rechten Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum gelesen. Daub nennt sie nur abschätzig «Cancel-Culture-Kassandras».

Ursprünglich war das Canceln ein fast unschuldiger Akt

Sein Buch öffnet mir allerdings die Augen, in welchem Ausmass tatsächlich immer mehr Konservative sich der Cancel Culture annehmen und das Thema bewirtschaften. Ursprünglich war es nur ein Internet-Phänomen, verbreitete sich bei Tumblr und ab 2016 auf Twitter. Tweets, in denen «XYZ is canceled» stand, kamen von Fans, die einen Star tadelten, der sich für einmal falsch verhalten hatte. Es war eine oft mit Augenzwinkern verschickte Botschaft.

Diese Unschuld verlor das Canceln rasch. Seit Sommer 2019 ist auch in den herkömmlichen Medien in Europa von «Cancel Culture» die Rede, als Nachbeben zu MeToo. Wie Daub rekonstruiert, tauchen selbst die wegen Missbrauchsfällen angeprangerten Woody Allen oder Roman Polanski plötzlich als Opfer des neuen «Tugendterrors» auf.

Adrian Daub, Literaturprofessor
Adrian Daub, Literaturprofessor. Bild: zVg

Das Strickmuster der Cancel-Culture-Anekdoten ist immer dasselbe: Unbescholtene Professoren oder Künstler werden von «Woken» (die selber in den Medien kaum je zu Wort kommen) mit absurden Vorwürfen konfrontiert und fallen ihrer Zensurwut zum Opfer. Adrian Daub macht sich im Gegensatz zu den meisten Journalisten die Mühe, einige dieser Anekdoten zu hinterfragen. Es stellt sich heraus, dass viele vermeintlich gecancelte Professoren doch nicht so unbescholten waren oder von ihren Unis nicht wirklich mundtot gemacht wurden.

Cancel-Kampagnen werden von Konservativen gefördert

Daub erwähnt Unternehmen wie TruthRevolt oder Daily Caller (mitbegründet von Tucker Carlson), die gern Cancel-Kampagnen lancieren. Die auf diese Weise in die Welt gesetzten Anekdoten finden ihren Weg auch in europäische Medien, wobei der Diskurs in deutschsprachigen Medien klar im Feuilleton stattfindet, während er in den USA eher in den Politteilen auftaucht.

Wie leicht die Cancel Culture ins Fiktive kippt, zeigt der kürzlich publik gewordene Fall des Schweizer Schriftstellers Jürg Halter, der vorgab, Opfer einer Cancel-Kampagne zu sein. Dessen Galerie organisierte sogar Personenschutz, weil Halter von anonymen Linksextremen bedroht worden sei. Eine konkrete Drohung, die sich gegen seine Person richtete, gab es aber nicht, wie das Online-Magazin «Republik» recherchierte.

Cancel-Stories tendieren nicht nur stark ins Literarische, wie Adrian Daub belegt, sie sind auch Stoff für grosse Literatur geworden. Man denke an den Roman «Schande» (1999) von J.M. Coetzee, Jonathan Franzens «Die Korrekturen» (2001) oder Philip Roths Meisterwerk «Der menschliche Makel» (2000), das die Cancel Culture durchspielte, bevor der Begriff im Umlauf war. In diesem Roman geht es um einen Professor, der nach einer ironisch gemeinten, aber rassistisch deutbaren Äusserung das Opfer einer Hetzjagd wird. Für viele Kulturaffine ein prägendes Leseereignis, auch für mich.

Genau mit dieser Wirkungsmacht von Roths Buch scheint Adrian Daub ein Problem zu haben, und damit beginnen die Probleme, die ich mit Daubs Buch habe. Er wundert sich, weshalb dieser fiktive Text immer wieder herangezogen wird, um eine scharfe Diagnose der realen amerikanischen Zustände herauszulesen.

Warum nimmt man nicht die heutige Lebensrealität, die zeigt, dass Karrieren von nichtweissen, nichtmännlichen, nichtalten, nichtprivilegierten Menschen in den USA wie bei uns nach wie vor ungleich häufiger verhindert werden als jene von WAR-Männern? Da hat Daub einen Punkt. Mich erstaunt andererseits, dass ausgerechnet ein Literaturprofessor einem Roman offensichtlich nicht zutraut, ein brauchbarer Spiegel der Wirklichkeit zu sein.

Trump wie Putin sind Kämpfer gegen Cancel Culture

Daub verbeisst sich zu polemisch darin, Cancel Culture als blosse Panik abzutun. Für ihn ist der Kampf gegen Cancel Culture nicht «die Speerspitze eines wehrhaften Liberalismus», vielmehr «Teil des Backlash, der die liberale Demokratie überhaupt erst bedroht». Das trifft in mancher Hinsicht zu. Trump wie Putin haben ihre Feinde immer wieder mit dem Vorwurf eingedeckt, Cancel Culture zu betreiben. Trotz all der klugen und pointierten Analysen drückt sich Adrian Daub aber letztlich vor der Frage, ob die Cancel Culture eine bedrohliche Realität ist oder nur ein Mediengespenst.

Es gibt gute Gründe, Angst zu haben. Aber es ist nicht die Angst vor dem Verlust von Aufmerksamkeit. Es ist die von Adrian Daub ignorierte Angst, dass hinter der Culture Culture eben doch Terror lauert, gewiss nicht von übereifrigen Linken oder Queeren, nein, aber erprobter Terror von Fanatikern, Fundamentalistinnen, Autoritären, die überall auf der Welt die Meinungsfreiheit gewaltsam abwürgen, sei es in China, Russland, Katar oder vor Monaten wieder im US-Staat New York, als der Schriftsteller Salman Rushdie nach einem Messerattentat schwere Verletzungen erlitt.

Zuvor hatte Rushdie immer wieder beklagt, das Lager der kuschenden Korrekten sei inzwischen so dominant, dass seine «Satanischen Verse» heute kaum noch einen Verleger finden würden. Das ist die wahre Cancel-Culture-Gefahr, und darum reagiere ich etwas allergisch, wenn sie nur frivol harmlos als mediale Panikmache in den Blick kommt. (bzbasel.ch)

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146 Kommentare
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Pummelfee
04.12.2022 00:30registriert Mai 2020
Man soll keinen Unterschied mehr machen zwischen den Geschlechtern oder wegen der Hautfarbe…und trotzdem werden diese Unterschiede immer wieder hervorgeholt, um sich über irgendwas zu empören und beschweren, weil man sich benachteiligt fühlt. Spielt es wirklich eine Rolle, ob ein junger Weisser Dreadlocks trägt? Und wer genau stört sich daran? Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht Menschen aus derjenigen Kultur, aus der die Dreadlocks stammen…reine Empörungskultur!
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Medical Device
03.12.2022 23:38registriert Januar 2021
Jeder und jede ist heute immer gleich empört über alles und jeden. Etwas mehr über sich selber Lachen können würde helfen
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Bruno Wüthrich
04.12.2022 02:51registriert August 2014
Der Punkt bei der Cancel Culture ist immer, dass verhindert werden soll, dass eine als sakrosankt empfundene Meinung entweder Konkurrenz von anderen Meinungen oder Kritik erhält. Der Grund hierfür ist, dass eine Meinung sich möglichst rasch als "allgemein gültig" durchsetzen soll. Das bringt man heute hin, wenn man entschlossen vorgeht und auf der anderen Seite niemand reagiert. Die Cancel Culture kann dafür sorgen, dass gar nicht richtig reagiert werden kann.

Heute bringen damit Minderheiten häufig die Mehrheit in Bedrängnis. Abstimmungen sind so aber eher selten zu gewinnen.
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