Er hat dieser Tage viel zu erzählen. Und wenn Wladimir Putin spricht – das ist mittlerweile auch im Westen bekannt – fasst er sich weder in Interviews noch in Reden sonderlich kurz: Etwas mehr als zwei Stunden lang sprach der russische Präsident Anfang Februar mit dem US-Moderator Tucker Carlson, nahezu genauso lang dauerte vor rund zwei Wochen seine Rede zur Lage der Nation. Am Dienstag legte Putin dann mit einem rund 90-minütigen Auftritt im Staatsfernsehen nach. Hinzu kommen viele öffentliche Termine: In den vergangenen Wochen traf er etwa auf Studenten oder zeigte sich in der Stadt Kasan im Cockpit eines russischen Atombombers.
Der Grund für Putins Öffentlichkeitsoffensive ist klar: Bis zum Sonntag stellt sich der russische Präsident erneut den Wählern seiner Heimat. Putin will sich in seinem Amt bis 2030 bestätigen lassen. Um weiter an der Macht zu bleiben, liess er 2020 extra die russische Verfassung ändern. Laut Gesetz könnte er nun bis 2036 regieren. In dem Jahr würde Putin seinen 83. Geburtstag feiern.
Streng genommen wirkt Putins Macht aktuell so zementiert, dass ein Urnengang überhaupt nicht nötig wäre. Trotzdem scheint der russische Präsident weiter grossen Wert auf ein möglichst gutes Ergebnis zu legen. Woran liegt das?
Dass Spitzenpolitiker sich vor Wahlen öffentlichkeitswirksam präsentieren, ist Teil ihres Jobs. Aus westlicher Perspektive könnte man sich trotzdem fragen, warum sich der russische Präsident diesen Wahlkampf noch antut: Laut dem unabhängigen russischen Lewada-Institut waren 86 Prozent der Russen mit Putins Politik einverstanden. Es ist der höchste Wert seit acht Jahren. Zur Wahl stehen zudem neben dem Präsidenten drei Marionetten des Kreml. Auch unabhängige Wahlbeobachter der OSZE werden im Gegensatz zu den vergangenen Wahlen diesmal nicht in Russland sein.
Andreas Heinemann-Grüder, Politik- und Konfliktwissenschaftler der Universität Bonn, sieht sowohl innenpolitische als auch aussenpolitische Gründe, warum Putin ein gutes Ergebnis anstrebt: Innenpolitisch sei jetzt jede Region gefordert, Putin entsprechend viele Stimmen zu besorgen: «Es ist eine Art Pro-Putin-Olympiade. Er will sehen, welche Gouverneure ihm die höchsten Wahlbeteiligungen und Zustimmungsraten garantieren können», sagt Heinemann-Grüder zu t-online.
Sollten die Zustimmungsraten etwa in verschiedenen Landesteilen nicht seinen Erwartungen entsprechen, könnte Putin danach die Verantwortlichen austauschen. Umgekehrt könnte ein gutes Ergebnis auch mit Belohnungen verbunden sein. In der Vergangenheit seien etwa die besonders putinfreundlichen Regionen anschliessend mit höheren Subventionen bedacht worden, erläutert der Politikwissenschaftler.
Gleichzeitig kann Putin mit der Wahl auch Stimmungen erfühlen: In den grossen Städten und dem europäischen Teil Russlands, der traditionell Putin gegenüber skeptischer eingestellt ist, kann laut Heinemann-Grüder die aktuelle Stärke der Opposition abgeschätzt werden. Doch die Zeiten, in denen etwa der mittlerweile tote Kremlkritiker Alexej Nawalny bei den Bürgermeisterwahlen 2013 in Moskau 27 Prozent der Stimmen einfuhr, scheinen vorbei zu sein. Die Opposition hat laut dem Russlandkenner nicht mehr die Kraft vergangener Jahre.
Auch Massenproteste wie nach der Parlamentswahl 2011 seien aktuell eher unrealistisch. «2011 gab es noch mehr Zugang zu freien Medien, das Netzwerk von Nawalny und weitere vielfältige Oppositionsgruppen. Diese Strukturen sind mittlerweile alle zerschlagen. Die Leute sind im Gefängnis, im Ausland oder tot», sagt Heinemann-Grüder.
Dennoch haben die verbliebenen Nawalny-Unterstützer auch bei dieser Wahl zu Protesten aufgerufen: Am Sonntag sollen sich landesweit alle Putinkritiker gleichzeitig vor ihren Wahllokalen einfinden. Anschliessend solle man für einen der drei zugelassenen Konkurrenten Putins stimmen oder einen ungültigen Wahlzettel abgeben, den man mit «Nawalny» unterschreibt.
Der Kreml sorgte allerdings in den vergangenen Wochen neben der mutmasslichen Ermordung Nawalnys mit weiteren Massnahmen dafür, die Opposition möglichst kleinzuhalten. Die beiden unabhängigen Präsidentschaftskandidaten, Jekatarina Dunzowa und Boris Nadeschdin, wurden von der zentralen Wahlkommission nicht zugelassen. Nawalnys enger Vertrauter Leonid Wolkow wurde zuletzt im litauischen Exil von einem Unbekannten mit einem Hammer attackiert. Der litauische Geheimdienst mutmasst, dass die Attacke von Russland aus geplant und durchgeführt wurde.
«Es ist eine Politik der Abschreckung und Angst, die da betrieben wird», fasst Andreas Heinemann-Grüder die Strategie des Kreml zusammen. Man wolle mit allen Mitteln verhindern, dass die Opposition am Wahlwochenende auf den Strassen demonstriert. Rund um die Beerdigung Nawalnys war es am Grab des Oppositionellen zwar zu Sprechchören gegen Putin und den Krieg gekommen.
Allerdings glaubt auch Kriegsgegner Nadeschdin aktuell nicht an grössere Proteste, wie er in einem Interview der Süddeutschen Zeitung sagte:
Die Bedeutung des Ukraine-Kriegs versucht Putin vor der Wahl nach aussen eher gering zu halten. In seinen jüngsten Reden sprach er deutlich länger über innenpolitische Themen wie etwa die Stärkung der russischen Infrastruktur oder der Förderung von Familien. Auch betonte er, dass sich die russische Wirtschaft trotz zahlreicher Sanktionen gut entwickele: Zwar macht derzeit die Inflation vielen Russen zu schaffen. Gleichzeitig hat Putins Umstellung auf Kriegswirtschaft kurzfristig für positive Kennzahlen gesorgt. Verschiedene Wirtschaftsexperten und die russische Zentralbankchefin Elvira Nabiullina hatten in den vergangenen Monaten allerdings bereits davor gewarnt, dass die russische Wirtschaft überhitzen könnte.
Die eigentlichen Geschehnisse an der Front spielen in Putins Wahlkampf dagegen keine grosse Rolle. Dabei kann sich Putin erstmals seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ein Stimmungsbild innerhalb seines Volkes machen. In den ärmeren und ländlicheren Gebieten wären hohe Zustimmungsraten wichtig, da von dort noch immer die meisten Männer an die ukrainische Front geschickt werden, meint Russlandkenner Heinemann-Grüder.
Auch in den besetzten ukrainischen Gebieten sollen die Menschen ihre Stimme für Putin abgeben. Dort wurde bereits in den vergangenen Monaten berichtet, dass russische Separatisten von Haus zu Haus ziehen, um Stimmen für Putin einzutreiben. Wer sich dem verweigere, droht festgenommen zu werden.
Gleichzeitig geht Andreas Heinemann-Grüder davon aus, dass Putin mit der Wahl auch ein Signal an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj senden will. Denn der müsste sich in diesem Monat eigentlich auch wieder zur Wahl stellen. Aufgrund des geltenden ukrainischen Kriegsrechtes ist die Präsidentschaftswahl allerdings ausgesetzt worden, ebenso wie die Parlamentswahl, die ursprünglich für den vergangenen Oktober angesetzt war. «Der Ukraine will er sagen: Ihr redet von Demokratie, aber bei uns wird gewählt», sagte Heinemann-Grüder.