International
Russland

Begnadigte Mörder verbreiten in Russland Angst und Schreck

Zurück von der Front: Begnadigte Mörder verbreiten in Russland Angst und Schrecken

Für den Krieg gegen die Ukraine rekrutiert der Kreml Häftlinge aus Straflagern. Dass unter ihnen sogar Mörder sind, entsetzt viele Russen. Auch, weil einige nun erneut morden.
24.12.2023, 15:07
Mehr «International»
Ein Artikel von
t-online
Ein russischer Soldat patrouilliert durch einen zerstörten Bereich des Iljitsch Eisen- und Stahlwerks Mariupol (Archivbild): Putin begnadigt auch Mörder für den Kriegseinsatz.
Ein russischer Soldat patrouilliert durch einen zerstörten Bereich des Iljitsch Eisen- und Stahlwerks Mariupol (Archivbild): Putin begnadigt auch Mörder für den Kriegseinsatz. Bild: Uncredited/AP/dpa/dpa-bilder

Der Schmerz von Vera Pechtelewas Eltern ist für Aussenstehende kaum vorstellbar. Vor knapp vier Jahren wurde ihre damals 23 Jahre alte Tochter von ihrem Ex-Partner brutal misshandelt, vergewaltigt und schliesslich getötet. Für die Tat wurde der Mann aus der sibirischen Stadt Kemerowo zu 17 Jahren Straflager verurteilt – doch da sitzt er längst nicht mehr.

Anfang November wurde bekannt: Veras Mörder ist bereits vor Monaten begnadigt worden, damit er als Soldat in Russlands Krieg gegen die Ukraine ziehen kann. Besiegelt wurde seine Haftentlassung durch ein Dekret von Kremlchef Wladimir Putin höchstpersönlich.

Pechtelewa schrie vor ihrem Tod stundenlang um Hilfe

Die Schmerzensgeld-Zahlungen des Mörders an Veras Familie sollten für die Dauer seines Kampfeinsatzes ausgesetzt werden. «Wir waren schockiert. Wie kann so etwas sein?» fragte Veras Mutter Oxana Pechtelewa damals in einem Interview des unabhängigen Portals «Bereg». «Und ich bin nicht alleine. Glauben Sie mir, es gibt mindestens Hunderte solcher Mütter.»

Unterstützung erhielt sie von der bekannten Frauenrechtlerin Aljona Popowa: «Was ist zu tun?», fragte sie auf ihrem Telegram-Kanal – und gab die Antwort selbst: «Nicht schweigen! Wenn wir schweigen, akzeptieren wir einfach, dass solche Mörder auf unseren Strassen herumlaufen.» Das Verbrechen an Vera Pechtelewa, die vor ihrem Tod stundenlang vergeblich um Hilfe schrie, hatte 2020 Menschen im ganzen Land schockiert – und entsprechend gross ist nun die Aufregung über die Freilassung ihres Peinigers. Ein Einzelfall aber ist das nicht.

Aljona Popowa: "Wenn wir schweigen, akzeptieren wir einfach, dass solche Mörder auf unseren Straßen herumlaufen."
Aljona Popowa: «Wenn wir schweigen, akzeptieren wir einfach, dass solche Mörder auf unseren Strassen herumlaufen.»Bild: Sergei Fadeichev/TASS/imago images

Putin hat Hunderttausende Männer einziehen lassen

Seit fast zwei Jahren führt Russland einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland Ukraine. Die Kämpfe sind auf beiden Seiten äusserst verlustreich, alleine in der russischen Armee sollen Nato-Schätzungen zufolge schon mehr als 300'000 Soldaten getötet oder verletzt worden sein. Durch eine Mobilisierungswelle hat Putin im vergangenen Jahr Hunderttausende Männer für die Front einziehen lassen, die Armee wirbt beständig um Freiwillige – doch offenbar reicht all das nicht.

Im Juni wurde deshalb auch die Anwerbung von verurteilten Straftätern durch die russische Armee legalisiert. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings schon längst bekannt, dass zumindest die Söldnergruppe Wagner bereits in grossem Ausmass Gefängnisinsassen rekrutiert hatte. Insbesondere in der bis zum Sommer 2023 andauernden Schlacht um die ostukrainische Stadt Bachmut sollen sie in Scharen als «Kanonenfutter» gedient haben. Tausende starben.

Die Stadt Bachmut ist zum grössten Teil zerstört.
Die Stadt Bachmut ist zum grössten Teil zerstört.Bild: RIA Novosti/Sputnik/imago images

Es gibt kaum verlässliche Zahlen

Der Kreml rechtfertigt die umstrittene Praxis damit, dass die Männer für ihre Verbrechen «mit Blut auf dem Schlachtfeld büssen». Wie viele Häftlinge auf diesem Weg die Gefängnisse bereits vorzeitig verlassen haben, darüber aber schweigt Moskau offiziell – wie über so vieles in diesem Krieg.

Die Nichtregierungsorganisation «Rus Sidjaschtschaja» («Russland hinter Gittern») sprach bereits vor knapp einem Jahr von rund 50'000 Rekruten, die in Gefängnissen angeworben worden seien. Von ihnen seien aber schon damals nur noch 10'000 im Einsatz gewesen, der Rest sei getötet, verletzt, verschollen oder in ukrainische Gefangenschaft geraten. Verlässliche, aktuelle Zahlen gibt es nicht.

Staatliche Medien dürfen offenbar nicht über Straftaten berichten

Geschwiegen werden soll nach dem Willen des russischen Machtapparats offenbar auch darüber, wie viele der begnadigten Verbrecher nach ihrer Rückkehr aus dem Kampfgebiet in Russland erneut straffällig werden. Informationen des Portals «Meduza» zufolge wurden staatliche Medien vom Kreml erst kürzlich dazu angehalten, über solche Fälle nicht zu berichten, damit die Russen «keine Angst bekommen».

Doch geheim halten lässt sich die Thematik längst nicht mehr. Denn der Kreml-Militärromantik von den angeblich geläuterten Verbrechern steht oft eine ganz andere Realität gegenüber: Da ist etwa ein Mörder aus dem Gebiet Kirow, der von Wagner rekrutiert wurde und nach seiner Rückkehr aus der Ukraine in seinem Heimatdorf eine 85 Jahre alte Rentnerin erstach.

Oder ein ebenfalls begnadigter Mörder aus Kemerowo, der – gerade zurück von der Front – im Alkoholrausch seinen Freund umbrachte. Oder ein ehemaliger Kämpfer aus Nowosibirsk, der ein zehn Jahre altes Mädchen vergewaltigt haben soll. Ganz zu schweigen natürlich von Kriegsverbrechen, die diese Männer möglicherweise in der Ukraine begangen haben.

Enorme finanzielle Kosten

Wie gravierend die Folgen aus dem Krieg heimkehrender Verbrecher für die russische Gesellschaft langfristig sein werden, darüber kann laut Experten bislang nur gemutmasst werden. Unklar sei das auch deshalb, weil noch niemand wissen könne, wie viele der begnadigten Häftlinge ihren Einsatz an der Front überleben werden, sagte etwa die Soziologin Asmik Nowikowa kürzlich dem russischsprachigen Dienst des US-Senders «Radio Liberty».

Doch selbst kremltreue Politiker halten einen Anstieg der Kriminalität vor diesem Hintergrund durchaus für denkbar. «Irgendwo wird jetzt möglicherweise die Kriminalitätsrate ansteigen», sagte der Dumaabgeordnete Maxim Iwanow dem Portal «74.ru».

Und das ist nicht die einzige Kriegsfolge, die Russlands Gesellschaft noch lange spüren dürfte. Stemmen muss sie auch enorme finanzielle Kosten – nicht nur für die von Putin angeordneten Kämpfe selbst, sondern auch für langfristige Ausgaben wie Veteranenrenten, Zahlungen an Hinterbliebene, Prothesen und andere gesundheitliche Leistungen. Alleine im kommenden Jahr sollen die Militärausgaben mehr als ein Drittel des knapp 37 Billionen Rubel (rund 370 Milliarden Euro) umfassenden russischen Staatshaushalts ausmachen – ein Rekordwert.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
60 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Karl33
24.12.2023 15:26registriert April 2015
Umfragen unter der russischen Bevölkerung zeigen hohe Zustimmungswerte für den Krieg. Die Kriegsunterstützung ist dabei nicht bloss Putins Propaganda geschuldet, sondern auch dem Unwillen, bei einer Niederlage hohe Reparationszahlungen leisten zu müssen.

Wer als Bürger von Russland den Krieg Russlands gegen die Ukraine unterstützt, muss halt mit den Folgen leben. Das gilt auch für jene, welche das Privileg haben, nicht von Putin eingezogen und an die Front geschickt zu werden.
16213
Melden
Zum Kommentar
avatar
_andreas
24.12.2023 15:25registriert April 2020
"Ausgaben wie Veteranenrenten, Zahlungen an Hinterbliebene, Prothesen und andere gesundheitliche Leistungen."

Wenn ein Soldat nur als verschollen gilt, bekommen die Angehörigen übrigens nichts. Deshalb wundern mich auch Berichte der Ukraine nicht die besagen dass russische verletzte auf dem Rückzug von den eigenen Leuten erschossen werden(auch weil sie eine Belastung sind) und Leichen im allgemeinen einfach liegen gelassen werden. Somit muss der russische Staat auch nichts bezahlen.
1054
Melden
Zum Kommentar
avatar
Janster
24.12.2023 15:19registriert März 2021
win-win situation für Putin. Weniger Unterhaltskosten in den Gefängnissen und wenn's gut läuft spielen sie dann eine Weile Soldaten bevor sie im Krieg fallen... Kranke Denkweise von Putin, aber ich wüsste nicht wie man das sonst interpretieren könnte.
815
Melden
Zum Kommentar
60
Wie gefährlich sind die Gaza-Proteste für Joe Biden? Expertin über die Lage an den US-Unis
Studentinnen und Studenten distanzieren sich zunehmend vom Präsidenten. Claudia Brühwiler erklärt, wieso die Alternative für Progressive nicht besser ist und wie das Chaos Donald Trump hilft.

Präsident Joe Biden und Herausforderer Donald Trump liefern sich in den Umfragen aktuell ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Bis zur Präsidentschaftswahl am 5. November dauert es zwar noch eine Weile, für die beiden Kandidaten lauern aber noch gefährliche Fallen. Bei Trump sind es seine zahlreichen Gerichtsfälle.

Zur Story