In der Nacht vom 23. auf den 24. Juni 2023 forderte Jewgeni Prigoschin, der Anführer der paramilitärischen Gruppe Wagner, Wladimir Putin heraus, indem er seine Truppen in Richtung Moskau schickte. Der Aufstand war jedoch nur von kurzer Dauer. Im Laufe des Samstags hielten die Truppen inne und verliessen ihre Stellungen in verschiedenen russischen Städten.
Von dieser Nacht an waren sich viele Beobachter einig: Das Leben des Chefs der Wagner-Gruppe war bedroht. Und sie sollten Recht behalten. Auf den Tag genau zwei Monate nach dem gescheiterten Aufstand, am 23. August, stürzte Jewgeni Prigoschins Privatjet Embraer Legacy in der Region Twer, etwa 180 Kilometer nordwestlich von Moskau, ab. Seine rechte Hand, Dmitrij Utkin, sowie weitere Funktionäre der paramilitärischen Gruppe starben ebenfalls.
Was geschah wirklich an diesem Tag? Damals versicherte Wladimir Putin, dass er eine Untersuchung durchführen werde, «die einige Zeit in Anspruch nehmen wird». Die internationale Gemeinschaft zweifelte aber an der Unschuld des Kremlchefs. Joe Biden sagte beispielsweise, dass «wenig in Russland passiert, ohne dass Putin etwas damit zu tun hat».
«The Wall Street Journal» schreibt unter Berufung auf westliche Geheimdienstbeamte und einen ehemaligen russischen Geheimdienstoffizier als Quellen:
Eine Übersicht.
Im Bericht wird ein Mann besonders hervorgehoben: Nikolai Patruschew. Der 1951 in Leningrad geborene Ingenieur, Absolvent des Leningrader Schiffbauinstituts und ehemalige stellvertretende Direktor des Geheimdienstes FSB (Nachfolger des KGB) ist heute der Sekretär des russischen Sicherheitsrats.
Weiter gilt Patruschew als einer der wichtigsten Berater von Wladimir Putin. Die beiden verbindet eine lange gemeinsame Vergangenheit. Putin und Patruschew kennen sich seit mehreren Jahrzehnten und schätzen sich gegenseitig. So war es etwa Putin, der Patruschew 1999 als seinen Nachfolger als Chef des FSB empfahl. Und in dieser Rolle stützte Patruschew seinen Kollegen auch, als dieser zum Kreml-Chef aufstieg.
2008 machte Putin Patruschew zum Sekretär des russischen Sicherheitsrats. In Wahrheit dürfte dessen Einfluss aber noch grösser sein. «The Wall Street Journal» schreibt, Patruschew sei «De-facto-Chef» von Putins Sicherheitsdiensten und mittlerweile «die zweitmächtigste Person Russlands».
Jewgeni Prigoschin war schon lange vor dem gescheiterten Aufstand im Juni 2023 ins Visier von Nikolai Patruschew geraten. Denn als Wladimir Putin die Wagner-Gruppe zur Unterstützung Russlands im Krieg gegen die Ukraine einsetzte, «beunruhigte Patruschew schon bald der schnelle Aufstieg Prigoschins», so «The Wall Street Journal».
Prigoschin sorgte in der Ukraine zwar für russische Erfolge, gewann so aber auch immer mehr an Einfluss. «Alle sagten Putin, es sei ein Fehler, eine Parallelarmee zu haben», ein ehemaliger Kremlbeamter gegenüber dem «Wall Street Journal». Diese zusätzliche Macht drohte, auch für Putin zur Gefahr zu werden. Und auch die immer häufigere Kritik Prigoschins an Waleri Gerassimow, dem Generalstabschef der russischen Streitkräfte, und Verteidigungsminister Sergej Schoigu passten Patruschew nicht.
So warnte Patruschew bereits im Sommer 2022 Wladimir Putin vor dem Wagner-Chef. Diese Warnungen stiessen beim russischen Präsidenten zunächst auf taube Ohren, da der militärische Vormarsch der Wagner-Gruppe in der Ukraine Prigoschin in die Hände spielte.
Die Situation sollte sich jedoch einige Monate später ändern. Im Herbst 2022 begann Prigoschin, sich offen über den Mangel an Ausrüstung vor Ort zu beschweren. Im Oktober soll er laut einem ehemaligen russischen Geheimdienstoffizier, der im «Wall Street Journal» zitiert wurde, sogar Wladimir Putin direkt am Telefon zurechtgewiesen haben. Eine Haltung, die als «respektlos gegenüber dem Herrn des Kremls» angesehen wurde.
Von da an verschlechtert sich die Situation: Zunächst kühlte sich die Beziehung zwischen Putin und Prigoschin ab, danach spitzte sich die Situation bis hin zu den Ereignissen im Juni dieses Jahres weiter zu. Und laut dem «Wall Street Journal» war es auch am Tag des Aufstands Patruschew und nicht Putin, der sich gegen Prigoschins Plan stellte. Laut Einschätzungen westlicher Geheimdienste und des ehemaligen russischen Geheimdienstoffiziers war er es, der es am Ende schaffte, Prigoschin zum Rücktritt und zum Abzug nach Belarus zu bewegen.
In den Wochen nach der gescheiterten Rebellion wusste die Welt nicht wirklich, was mit Jewgeni Prigoschin geschehen war. Zur Erinnerung: Über den belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko war ein Abkommen – dessen Einzelheiten unbekannt sind – mit dem russischen Regime geschlossen worden.
Später wurde bekannt, dass Prigoschin nach Afrika gereist sein soll – die Wagner-Gruppe ist dort präsent – und dass er in Russland, insbesondere in St. Petersburg, weiterarbeitete.
Rolf Mowatt-Larssen, ein ehemaliger CIA-Stationsleiter, berichtet im «Wall Street Journal»:
Der Amerikaner erklärt, dass Wladimir Putin einen klaren Plan hatte: «den Toten am Leben zu halten», damit er herausfinden konnte, was im Juni wirklich passiert war – also wie es genau zum Aufstand hatte kommen können.
Patruschew aber war damit nicht zufrieden. Laut dem ehemaligen russischen Geheimdienstoffizier gab er Anfang August in seinem Büro im Zentrum Moskaus seinem Assistenten den Befehl, mit der Planung einer Operation zur Beseitigung von Prigoschin fortzufahren. Diese Pläne habe Patruschew dann auch Putin gezeigt, welcher «keine Einwände erhoben» haben soll.
Und so warteten an jenem Mittwoch, dem 23. August, das spätere Opfer und neun weitere Passagiere an Bord des Privatjets, während ein letzter Sicherheitscheck durchgeführt wurde. Niemand bemerkt den kleinen Sprengsatz, der unter dem Flügel des Flugzeugs angebracht wurde.