Besonders im ostukrainischen Donbass machen immer neue Kriegsmeldungen deutlich: Putins russische Armee ist auf dem Vormarsch. Russland strebt die Kontrolle über den gesamten Donbass an. Was dieser Kampf bedeutet, zeigt sich in einem schrecklichen Ausmass in Sjewjerodonezk.
Von dort kamen zuletzt immer neue Schreckensmeldungen. Tausende Zivilisten harren noch aus, unter ihnen Kinder und alte Menschen. Viele von ihnen haben in einer Chemiefabrik Unterschlupf gesucht. Auch deshalb erinnert die Lage der Stadt stark ans früher im Krieg belagerte Mariupol. Es wird mittlerweile von Russland kontrolliert, seit sich die letzten Kämpfer in einem Stahlwerk ergeben haben.
Patrick Münz von der Berliner Hilfsorganisation Leave No One Behind war in den letzten Wochen in Sjewjerodonezk und half dabei, Zivilisten aus der Stadt zu evakuieren. CH Media konnte mit dem deutschen Freiwilligenhelfer sprechen, als er sich für einige Tage in Zypern von der lebensgefährlichen Rettungsmission erholte.
Unterdessen ist die Flucht- und Versorgungsroute für die Zivilisten in Sjewjerodonezk mit der Zerstörung der noch letzten bisher unbeschädigten Brücke über den Fluss Seweryi Donez unterbrochen. Münz' Konvoi hatte in vier Tagen 187 Menschen aus Sjewjerodonezk und dem nahen Lyssytschank in Sicherheit gebracht. Unter ihnen waren Kinder und Schwerverletzte.
Münz bezeichnet die jetzige Lage für die Bevölkerung unvorstellbar. «Da wird ja pausenlos bombardiert. Solchen Bedingungen ausgesetzt zu sein, hält keine Psyche lange aus», sagt er.
In der Stadt traf Münz auf kaum beschreibbares Leid. Es waren vor allem die Alten, die zurückblieben. «Viele sind nicht mehr mobil. Sie schaffen es bei Beschuss nicht mehr in die Keller und bleiben in ihren Wohnungen mit ein paar Flaschen Wasser.»
Während der Rest der Bevölkerung in den Bunkern ausharre, könnten sich die alten Menschen kaum noch versorgen.
Die Helfer arbeiten unter lebensgefährlichen Bedingungen. Um sich von Militärkonvois oder anderen Kampftruppen zu unterscheiden, wählten Münz und seine Kollegen auffällige rote Fahrzeuge aus. Eine Garantie war das freilich nicht. Einmal seien sie von Streumunition nur knapp verfehlt worden. «Wenn die Sprengkörper unter unserem Fahrzeug explodiert wären, hätte uns auch die Panzerung nichts genützt. Die humanitären Zentren, an denen Zivilisten Hilfe finden sollen, werden leider auch immer wieder angegriffen.»
Die Rettungsmission stellte sich nicht nur wegen der Brutalität des Kriegs als äusserst schwierig heraus. Die Menschen der Stadt seien mehrheitlich prorussisch eingestellt, so Münz. Er sagt:
Was zu Überzeugungsschwierigkeiten führe. Manche der Bewohner wollten die Stadt gar nicht verlassen. Selbst diejenigen, die mitkommen, wollten unbedingt in der Nähe der Stadt bleiben.
Es brauche deshalb viel Überzeugungsarbeit bei den Evakuationen. «Wir haben den Menschen gesagt, dass ihre Stadt auch nicht sicher sein wird, wenn die Russen sie eingenommen haben. Denn dann müssen sie mit Beschuss von der ukrainischen Seite rechnen.»
Münz befürchtet das Schlimmste für die Menschen in Sjewjerodonezk. Den einzigen Ausweg sieht er in der Aushandlung eines humanitären Korridors, damit die Menschen, vor allem diejenigen aus der Chemiefabrik, das Gelände sicher verlassen können.
Das Beispiel Mariupol und das belagerte Stahlwerk Asowstal dort zeigen jedoch, wie schwierig es sein kann, solche Fluchtrouten einzurichten. Münz macht sich denn auch keine Illusionen. Er will wieder als Helfer in die Ukraine zurück. Anfang Juli soll es so weit sein.
Dann, ist er sicher, werde die Schlacht um Sjewjerodonezk vorbei sein. «Dann kontrollieren die Russen die Region Luhansk. Die Ukrainer bereiten sich auf die Verteidigung der Grossstadt Slowjansk vor. Wir werden dann wohl dort im Einsatz sein.»