Natürlich weiss der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass er im olivgrünen Leibchen mit Bart anders wirkt als frisch rasiert, in Anzug und Krawatte. Er ist ein meisterhafter Kommunikator. Dennoch scheinen zwischen den nebenstehenden Bildern Jahre zu liegen. Nicht 50 Tage. Das eine wurde am 22. Februar, zwei Tage vor Kriegsbeginn, aufgenommen, das andere letzten Montag.
Vielleicht zeigt sein Gesicht vor allem die Müdigkeit: Dass er pro Nacht nicht mehr als vier Stunden schläft, wie er sagt. Und der veränderte Ausdruck liegt auch an der Zornesfalte zwischen den Augen, mit der er die todernsten Aussagen macht.
Der frappante Unterschied erinnert aber daran, dass sich Selenskyj auch innerlich verändert haben muss. Von der deutschen «Bild»-Zeitung darauf angesprochen, hat er geantwortet: «Das sind zwei verschiedene Menschen. Es ist zum Vorteil von unserem Land. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich zu diesem Menschen noch einmal zurückkehren werde.»
Krieg ist Stress pur. Und Stress ist die Angst vor Kontrollverlust. Mirjam Kessler, Psychologin an der Universität Zürich, erklärt: «Grundsätzlich haben wir eine vermeintliche Kontrolle. Ein psychisch gesunder Mensch geht nicht davon aus, dass ihm Unheil zustösst, wenn er oder sie das Haus verlässt. Auch wenn theoretisch ja etwas passieren könnte. Dieses Kontrollgefühl zu haben, ist wichtig.»
Im Krieg aber fallen die Strukturen auseinander, die Gewissheiten, die Vorhersehbarkeit und oft auch das schützende Umfeld von Familie und Freunden. Der Stress beginnt. Der Körper reagiert darauf mit der Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin, und wenn Stress länger anhält, kommt Cortisol dazu. Erstere putschen auf und dämpfen Schmerz, Letzteres hemmt das Immunsystem. Bekannt ist deshalb das Phänomen, dass jemand just in den Ferien krank wird, also dann, wenn der Stress und damit der Cortisolspiegel wieder sinkt.
Kurzzeitiger Stress ist sogar gesund, eben weil Cortisol produziert wird und Entzündungen hemmt. Besonders zusammen mit Sport, bei dem der Stress wieder abgebaut wird.
«Doch wenn keine Erholungsphase kommt, schadet das Cortisol langfristig dem Körper. Das Immunsystem gerät aus dem Gleichgewicht», sagt Kessler. «In ständiger Anspannung schläft man zudem schlecht und isst oft ungesund.»
Direkte körperliche Auswirkungen sind aber nach 50 Tagen Krieg noch nicht zu befürchten. Auch Dermatologin Roberta Vasconcelos-Berg vom Unispital Basel sagt: «Sobald man zur Ruhe kommt und besser schläft, sieht das Gesicht wieder anders aus.»
Schwieriger ist es für die Psyche. Auch weil Frieden nicht in Sicht ist. Erholungsinseln wären wichtig. «Manche schaffen sich solche sogar im Krieg», sagt Psychologin Kessler. Man sah Ukrainerinnen, die in der U-Bahn in Kiew Schutz gesucht hatten, Musik machen. Es gibt Fotos von Schachspielern im Keller und jene Frau, die sagte, in ruhigen Stunden gehe sie hinter dem Haus trotz allem gärtnern.
Für die Seele ist das heilsam. Und noch etwas: Gemeinschaft. «Das Umfeld spielt bei Stress eine grosse Rolle», sagt Kessler. «Wenn man das Gefühl hat, man erlebe etwas allein, fühlt man sich von der Gemeinschaft unverstanden. Darauf reagiert die Psyche, und Stress-Symptome können entstehen wie Bluthochdruck, Schwindel, Verdauungs- und Schlafprobleme.»
Ähnliches schilderte der britische Psychologe und Falklandkrieg-Veteran David Jackson kürzlich gegenüber dieser Zeitung: Er habe erst eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, als er das Militär verlassen habe. In der Truppe, umgeben von Menschen, die gleiche Erfahrungen gemacht hatten, habe das Zusammengehörigkeitsgefühl eine heilsame Wirkung gehabt.
«Da kommen auch Scham und Schuld ins Spiel», gibt Kessler zu bedenken. Nach dem Krieg ist das Leiden grösser, wenn einen Schuldgefühle plagen.
Das Schuldgefühl spielt auch auf der Opferseite eine Rolle - aber komplett anders, nämlich als Schutzbehauptung: Besonders Vergewaltigungsopfer geben sich oft irgendwie selber die Schuld am Vorfall. Nicht weil dies stimmt, sondern weil Schuld suggeriert, dass man einen Einfluss hatte. Beängstigender wäre es, sich einzugestehen, dass man ausgeliefert war: der Kontrollverlust.
Präsident Selenskyj hat diesbezüglich einen Vorteil: Er ist aktiv, er hat tatsächlich Einfluss und versucht, mit geschickter Kommunikation die Ukraine zu stärken. «Aber wir wissen nicht, mit welchem Gefühl er abends ins Bett geht», sagt Kessler, «denkt er daran, wie viele Leute er wieder erreicht hat? Oder denkt er daran, dass er zu wenig bewirkt hat?» Diese individuelle Bewertung der Situation sei extrem wichtig dafür, wie stark der Kontrollverlust und somit der Stress empfunden wird.
Klar ist: Nach dem Krieg ist der Stress nicht wie weggewischt. Er hinterlässt, wenn nicht im Gesicht, dann sicher in der Seele Spuren. Nicht nur Selenskyj wird nie mehr der unbeschwerte Komiker sein. Wer einen Krieg erlebt hat und danach Kinder zeugt, gibt die Erlebnisse via Epigenetik weiter: Der Stress schaltet beim Nachwuchs Gene an, welche die Kinder empfindlicher für Stress machen. «Evolutionär machte das Sinn, weil die Nachkommen so schneller in den Flucht- oder Kampfmodus kommen», sagt Kessler.
Aber auch eine andere Haltung kann sich fortpflanzen, Kessler zieht dazu die Erlebnisse der Menschen in Konzentrationslagern im Zweiten Weltkrieg heran: «Viele sind daran zerbrochen. Aber in manchen Fällen fanden die Insassen trotzdem Sinn im Weiterleben. Solche Menschen vererben eher das Gefühl ?wir schaffen alles? als ?die Welt ist gefährlich?.» (aargauerzeitung.ch)