Lediglich Ersatzmann war Stanislaw Petrow, als er in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1983 seinen Dienst verrichtete. Der Oberstleutnant vertrat einen Kollegen, der erkrankt ausgefallen war. Wobei? Einer der wichtigsten Tätigkeiten, die die sowjetischen Streitkräfte zu verrichten hatten: die Satellitenüberwachung in einem Raketenfrühwarnzentrum, alles streng geheim.
1983 befanden sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der westlichen Führungsmacht USA auf einem Tiefpunkt. Der Kalte Krieg war noch eisiger geworden, die Auseinandersetzung hitziger. Neben der Kubakrise 1962 um die Stationierung sowjetischer Atomwaffen vor der Haustür der Vereinigten Staaten gab es nur wenige vergleichbar brenzlige Situationen für die Mitgliedsstaaten der NATO, die kürzlich 75 Jahre alt wurde. Ein Atomkrieg war alles andere als unwahrscheinlich.
Denn Stunden, nachdem besagter Stanislaw Petrow, 44 Jahre alt, die Verantwortung im Frühwarnzentrum übernommen hatte, ging dort der Alarm los. Die Satellitentechnik warnte vor dem Start einer Interkontinentalrakete im Nordwesten der USA. Mit einem nuklearen Sprengkopf.
War es jetzt so weit? Drohte der nukleare Erstschlag seitens der USA und die unvermeidliche sowjetische Gegenreaktion? So schien es. Denn die für damalige Verhältnisse hochmoderne Anlage meldete bald vier weitere im Anflug befindliche Atomraketen aus den USA.
So wie etwa wenige Wochen zuvor, am 1. September 1983: Ein sowjetischer Kampfpilot schoss an diesem Tag in der Nähe der Insel Sachalin eine südkoreanische Passagiermaschine vom Himmel. Der Jumbo war aus ungeklärten Umständen in den Luftraum der kommunistischen Supermacht eingedrungen, den Abschuss räumte der Kreml erst später schamhaft ein. 269 Tote waren zu beklagen, darunter Dutzende Amerikaner. US-Präsident Ronald Reagan attestierte der Sowjetunion «unmenschliche Brutalität».
Seit Längerem hatte Reagan die Sowjetunion als «Reich des Bösen» gegeisselt. Nicht nur das Schicksal der südkoreanischen Maschine bestärkte ihn in dieser Ansicht, sondern etwa auch der Krieg der Sowjets in Afghanistan; der Kreml hatte 1979 seine Truppen in das Land einmarschieren lassen. 1983 verschärfte sich die Lage zusätzlich dadurch, dass das rote Riesenreich im Inneren immer schwächer wurde. Juri Andropow stand seit kurzer Zeit an seiner Spitze, ein Greis, früher Chef des KGB.
Als Kalter Krieger misstraute Andropow den Amerikanern zutiefst, auch weil Ronald Reagan der klammen Sowjetunion durch das Hochfahren der Rüstung den sprichwörtlichen Stecker ziehen wollte. Besonders das Kürzel SDI löste in Moskau Beunruhigung aus. Die von Reagan propagierte Strategic Defense Initiative – auch als «Star Wars» bespöttelt – versprach nicht nur einen Schutzschirm gegen die Bedrohung durch sowjetische Interkontinentalraketen, sondern auch allerlei andere militärtechnologische Errungenschaften.
Dass vieles davon damals mehr der Fantasie als der Machbarkeit entsprang, war Moskau entgangen. Entsprechend gross waren die Angst und Paranoia, die Ende September 1983 zu einer dramatischen Entwicklung hätten führen können.
Hätten ...
Denn Stanislaw Petrow, der Oberstleutnant im Frühwarnzentrum, blieb angesichts der fünf vermeintlich anfliegenden amerikanischen Atomsprengköpfe bedächtig. Er trotzte seinen Untergebenen, die ihn bedrängten, höhere Stellen zu informieren, die wiederum den möglichen sowjetischen Gegenschlag initiiert haben würden.
Ein atomarer Erstschlag der USA gegen die nuklear schwer bewaffnete Sowjetunion kam Petrow allerdings wenig realistisch vor. Hätte die westliche Supermacht in einem solchen Fall nicht ihr gesamtes Arsenal eingesetzt? Oder zumindest grosse Teile davon? Fünf Interkontinentalraketen hatten trotz ihrer Massenvernichtungskraft kaum das Potenzial, einen nuklearen Enthauptungsschlag gegen die gesamte Sowjetunion zu leisten.
Gut 30 Minuten standen Petrow maximal zur Verfügung, um seine Vorgesetzten zu informieren. Wenig Zeit, um über das Schicksal der Welt zu entschieden. Doch Petrow zweifelte. Der Ingenieur traute dem Satellitensystem nicht ganz über den Weg. Sein «Bauchgefühl» habe ihm etwas anderes gesagt, sollte er viele Jahre später bestätigen.
Nach 17 Minuten sollte Petrows Bauch recht bekommen. Nach eingehender Prüfung stellte sich der Alarm als Fehler heraus: Wolken hatten lediglich Sonnenstrahlen zurückgestrahlt, ein Satellit und das Überwachungssystem daraus Raketenstarts konstruiert. Kurz gesagt: Lichtblitze avancierten zum angeblichen Abschuss. Kleiner Fehler, potenziell mörderische Wirkung. Der Atomkrieg? Abgeblasen. Öffentlich bekannt wurden die dramatischen Ereignisse vom September 1983 erst nach dem Ende des Kalten Krieges.
Ohne dieses Wissen probte die NATO kurz darauf einige Wochen ihr Vorgehen in einem Atomkrieg. «Able Archer 83» lautete die Bezeichnung der Übung vom 7. bis 11. November 1983, mit der das Verteidigungsbündnis seine Abläufe in einem Nuklearkrieg trainieren wollte.
In Moskau, wo sich Kremlchef Andropow seinem Tod entgegenschleppte, soll die Übung hingegen als Ernstfall angesehen worden sein. Sprich: «Able Archer» wäre die Tarnung für einen beabsichtigten atomaren Erstschlag des Westens gewesen, die Sowjetunion hätte sich entsprechend dieser Fehlannahme gewappnet. 2013 widersprach der Harvard-Historiker Mark Kramer dieser These, denn etwa im Politbüro in Moskau wäre «Able Archer» kein Thema gewesen.
Doch auch Kramer wurde widersprochen, die Forschung ist sich lediglich in ihrer Uneinigkeit einig über die potenziell denkbaren Konsequenzen von «Able Archer» bis hin zu einem Atomkrieg. Fest steht allein, dass Nuklearwaffen keine Fehler verzeihen. 1983 bewahrte Stanislaw Petrow die Menschheit vor dem Untergang. Sonderlich weiser ist sie seitdem nicht geworden, wie Wladimir Putins Einschüchterungsversuche mit dem russischen Kernwaffenpotenzial gegen den Westen im Zeichen des russischen Kriegs gegen die Ukraine immer wieder demonstrieren.
Gleichzeitig bleibt zu hoffen, dass es auf allen Seiten noch Menschen gibt, die nicht blind allem und jedem folgen.