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Das passiert, falls Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnt

epa11013747 Russian President Vladimir Putin attends a welcoming ceremony before a meeting with President of the United Arab Emirates Sheikh Mohamed bin Zayed Al Nahyan at Qasr Al Watan Palace in Abu  ...
Auf der Suche nach Verbündeten: Kriegsverbrecher Wladimir Putin.Bild: keystone
Analyse

Das passiert, falls Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnt

Die Unterstützung der Ukraine ist wichtiger denn je. Zwei Experten erklären, warum es dabei auch um unsere eigene Zukunft geht.
06.12.2023, 19:5817.01.2024, 13:50
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Anne Applebaum, die bekannte US-Historikerin und Russland-Kennerin, brachte es auf den Punkt: Ein Europa, das sich dauerhaft im Krieg befinde, sei eine Idee, die den meisten Menschen im Westen unmöglich erscheine.

Wladimir Putin sehe das hingegen anders. Als langjähriger KGB-Offizier, stationiert in Dresden, erinnere er sich an die Zeit, als Ostdeutschland vom Kreml regiert wurde.

Spätestens seit der brutalen Invasion in der Ukraine sollte klar sein, dass Putin nicht nur davon träumt, sondern tatsächlich ein neues grossrussisches Reich schaffen will.

Ukrainische Soldaten der 17. Panzerbrigade bereiten ihre T-64-Kampfpanzer auf den Kampf vor.
Ukrainischer Panzersoldat: Das überfallene Land hat fast Unmögliches geschafft.Bild: imago-images.de

Wir seien in «eine neue Ära des Konflikts zwischen Grossmächten eingetreten», analysiert Anne Applebaum. Die Russen wüssten das bereits und hätten den Übergang zu einer umfassenden Kriegswirtschaft vollzogen.

Im Westen scheinen dies viele Verantwortungsträger bis jetzt nicht wahrhaben zu wollen. Wie sonst lassen sich die Versäumnisse bei der Ukraine-Unterstützung erklären?

Angesichts der weiter nur zögerlich erfolgenden Waffenlieferungen und drohender Engpässe ist es ratsam, sich mit dem Worst-Case-Szenario auseinanderzusetzen. Genau dies haben zwei deutsche Politikwissenschaftler getan. Im Folgenden geben wir wichtige Teile ihres Essays wieder.

Was, wenn Russland gewinnt?

Was wäre, wenn Russland seinen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gewinnen würde?

Die Politikwissenschaftler Carlo Masala und Nico Lange aus Deutschland haben in ihrem lesenswerten Essay (siehe Quellen) ein dramatisches Szenario skizziert.

«Sirenen heulen. Handy-Warntöne schrillen tausendfach. Luftangriffe in Paris, Warschau und Berlin.

Marschflugkörper und Drohnen-Schwärme dringen in den europäischen NATO-Luftraum ein. NATO-Soldaten liefern sich seit Tagen Feuergefechte im Baltikum. Als Reaktion auf russische Angriffe dort löste die NATO Artikel 5 aus. Russland reagierte mit Raketen.

Einige Staaten haben sich aus der NATO und der EU zurückgezogen, während ein harter Kern im Norden und Osten heftigen Widerstand leistet. Deutschland und andere Länder sind zerrissen.

Bei hitzigen Protesten kommt es in vielen deutschen, französischen, italienischen und spanischen Städten zu gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen die Polizei energisch vorgehen muss.

Extremistische und populistische Parteien profitieren enorm von der Situation, nicht zuletzt, weil der Welthandel und die Wirtschaft zusammenbrechen.

Im Indopazifik startet China seit Wochen Angriffe auf Taiwan. Unterdessen verabschieden die Vereinten Nationen Resolutionen gegen die europäischen NATO-Mitglieder, weil viele afrikanische, lateinamerikanische und asiatische Staaten in der Generalversammlung mit Russland und China stimmen.»

* Als Sieg Russlands definieren die beiden Autoren eine Situation, in der Russland «im Rahmen von Verhandlungen oder aufgrund der militärischen Realitäten vor Ort» dauerhaft Teile des ukrainischen Staatsgebietes zugesprochen bekomme.

Ist das nicht völlig übertrieben?

«Ein russischer Sieg über die Ukraine würde das Ende der Welt, wie wir sie kennen, einläuten.»

Masala und Lange begründen in ihrem Essay, wie sie auf das europäische Schreckszenario kommen. Sie betonen, dass es sich um ein Gedankenexperiment handelt. Aber:

«Die heulenden Sirenen, Luftangriffe und Schlachten in unserem Szenario sind leider realistischer, als viele denken. Dass die Gefahren auch für uns real sind, ist die eigentliche ‹Zeitenwende›.»
Carlo Masala (55) ist ein deutscher Sicherheitsexperte, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München und äussert sich unter anderem im «Sicherheitshalber»-Podcast regelmässig zum Ukraine-Krieg.

Nico Lange (48), ist ein deutscher Politikberater, Politikwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet als «Senior Advisor» für Globsec, einen globalen Thinktank, und war zuvor unter anderem in leitender Position im Verteidigungsministerium.

Die Politikwissenschaftler führen mehrere Gründe an, warum ein Sieg Russlands katastrophale Folgen hätte.

1. Es käme zu einer seit dem Zweiten Weltkrieg nie dagewesenen Migrationsbewegung innerhalb Europas.

Die Ukraine bliebe dann ein dauerhafter Krisenherd in Osteuropa. Sowohl die von Russland besetzten Gebiete als auch der Rest der Ukraine wären dauerhaft instabil.

Viele Ukrainerinnen und Ukrainer würden ihr Land verlassen, weil sie nicht in den russisch besetzten Gebieten leben wollen und dort aufgrund der zu erwartenden russischen Repression und Folter nicht überleben können. Andere würden ihr Glück im sicheren Ausland versuchen, weil ihre Heimat keine Perspektive mehr für Erwachsene und Kinder biete.

«Flüchtlinge und Vertreibung wären für Europa ein riesiges Problem in einer Zeit, in der die EU bereits von illegaler Migration aus anderen Teilen der Welt überwältigt wird.»

2. Putin und Co. würden bestärkt, ihren Plan vom grossrussischen Reich tatsächlich in die Tat umzusetzen

Sollte Russland als Sieger aus dem Ukraine-Krieg hervorgehen, werde dies dem russischen Nationalismus und Neoimperialismus erheblichen Auftrieb geben, geben Masala und Lange zu bedenken. Der Kreml werde in der Folge neue militärische Angriffe planen, wobei Russlands Nachbarn Georgien und die Republik Moldau ebenso klare Ziele seien wie die baltischen EU-Staaten Estland, Lettland und Litauen.

Dies alles passiere vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass der kollektive Westen angesichts russischer Atomwaffen und russischer Militärmacht eingenickt sei.

«Was sollte Moskau glauben machen, dass die NATO-Staaten angesichts der russischen Atomdrohungen ihren territorial kleinen Mitgliedsstaaten mit aller militärischen Macht zu Hilfe eilen werden?»

Ausserdem werde Russland zu einer offenen politischen Erpressung des Westens übergehen, wobei erneut Energie und Rohstoffe als Waffen eingesetzt würden.

Niemand in Europa wäre mehr sicher, warnen die beiden Politikwissenschaftler. Die «humanitären, wirtschaftlichen und militärischen Kosten» würden rapide steigen.

3. Europas Demokratien würden weiter destabilisiert, mit bösen Folgen

Ein siegreiches Russland würde den Rechts- und Linksextremisten in vielen europäischen Ländern erheblichen Auftrieb geben: Sie alle sähen sich in ihrer Haltung bestärkt, dass es sich nicht lohne, die Ukraine zu unterstützen.

Russland würde diese Entwicklung mit intensiven Einflussoperationen, offener Unterstützung und Finanzierung von Populisten und Extremisten sowie Desinformation begleiten. Etwas, was Putin schon länger und relativ erfolgreich tut.

Damit stiege die Wahrscheinlichkeit, dass Extremisten ihre politische Macht vergrössern oder gar, wie der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders, Wahlen gewinnen.

«Eine solche Entwicklung hätte direkte Auswirkungen auf die Europäische Union, die von Rechts- und Linksextremisten gleichermassen abgelehnt wird, sowie auf die NATO, aus der einige dieser Parteien lieber gestern als morgen austreten würden.»

4. Es droht eine existenzielle Krise der NATO

Die deutschen Politikwissenschaftler rufen in ihrem Gedankenexperiment selbstverständlich auch die innenpolitischen Entwicklungen in den USA in Erinnerung. Sollte 2024 der Putin-Freund Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt werden, wären die Tage der NATO gezählt.

Genau dies sei auch das Ziel der «neuen Sicherheitsordnung in Europa», die Putin völlig offen anstrebt.

Sollte das transatlantische Verteidigungsbündnis in schwere Turbulenzen geraten und würden die Vereinigten Staaten ihre schützende Hand zurückziehen, würde Russland aufgrund einer solchen Entwicklung wohl in Europa dominieren.

5. Die ganze Welt könnte ins Chaos stürzen, Menschenrechte und echte Freiheit wären überall bedroht

Ein russischer Sieg über die Ukraine hätte nicht nur katastrophale Folgen für Europa, sondern auch für den Rest der Welt, warnen die beiden Politikwissenschaftler in ihrem Gedankenexperiment.

«Stärkere Staaten könnten im Glauben, dass es keine nennenswerte internationale Reaktion geben würde, in kleinere Länder einmarschieren, alte Streitigkeiten begleichen oder es wagen, nach regionaler Vormachtstellung zu greifen.»

China, Iran und andere demokratiefeindliche Akteure beobachteten genau, wie weit der demokratische Westen bereit sei, entschieden für seine Werte (die universellen Menschenrechte) und die liberale Weltordnung einzustehen.

  • Es sei kein Zufall, dass im Schatten des russischen Angriffskrieges der Nahe Osten destabilisiert werde und China seine Grenzen zu den Philippinen brutal auf die Probe stelle.
  • Aserbaidschan habe die Ablenkung des Westens durch den russischen Angriffskrieg genutzt, um einen zweiten Angriff auf das Nachbarland Armenien zu starten und die völkerrechtlich umstrittene Enklave Berg-Karabach zurückzuerobern.
  • Neu kommen die fragwürdigen Gebietsansprüche von Venezuela gegen den Nachbarn Guyana hinzu.

Aus dieser Perspektive wäre auch die Invasion Taiwans durch China «nicht nur denkbar, sondern höchstwahrscheinlich», halten Masala und Lange in ihrem Essay fest.

6. Atomare Aufrüstung

Wenn internationales Recht und die globale Sicherheitsordnung nichts mehr gelten, wenn also jedes Land ohne Nuklearwaffen befürchten müsste, überfallen zu werden, hätte dies eine atomare Aufrüstung zur Folge.

Die Politikwissenschaftler:

«Der Rest der Ukraine und viele andere Staaten der Welt würden aus dem russischen Angriffskrieg die logische Schlussfolgerung ziehen, dass nicht die internationale Staatengemeinschaft und die regelbasierte Ordnung sie schützen können, sondern nur ihre eigenen Atomwaffen.»

Die beunruhigende Prognose: Schliesslich gäbe es 15 oder mehr Atommächte statt der derzeitigen neun. Dies würde das Risiko einer verheerenden Fehleinschätzung und die Möglichkeit eines technischen Versagens erhöhen.

Was lernen wir daraus?

Das Gedankenexperiment zeige, dass ein russischer Sieg unabsehbare Folgen für die europäische und globale Stabilität hätte, geben die Wissenschaftler zu bedenken.

Ein russischer Sieg würde uns alle politisch und wirtschaftlich viel mehr kosten. Und er könnte der Anfang von etwas sein, das sich kein Demokrat wünsche, nämlich das Ende der liberalen Weltordnung und der Beginn einer autoritären.

«Putin will die Welt, wie wir sie kennen, zerstören und ist deshalb in die Ukraine einmarschiert. Wenn wir die Welt, wie wir sie kennen, retten wollen, müssen wir mit der Ukraine zusammenarbeiten, um seinen Angriff abzuwehren.»
Carlo Masala und Nino Lange

Die Politikwissenschaftler wagen einen versöhnlichen Ausblick: Eine Ukraine, die sich als Mitglied der NATO und der EU vollständig aus der imperialen Herrschaft Russlands befreien könne, würde Europa einen Aufschwung geben. In Bezug auf Sicherheit, Wohlstand und globales Ansehen.

Gleichzeitig würden Putins Niederlage und der wahrscheinlich damit verbundene Sturz seines kleptokratischen Regimes «Chancen für eine friedliche und konstruktive Rolle Russlands in Europa in der Zukunft eröffnen.»

Ob sich diese hoffnungsvolle Prognose der Politikwissenschaftler bewahrheitet, ist zumindest fraglich. Wie heisst es doch unter militärischen Einsatzplanern: Hoffe auf das Beste, und bereite dich auf das Schlimmste vor.

Das letzte Wort soll Anne Applebaum haben:

«Wir müssen anfangen, nicht nur darüber nachzudenken, der Ukraine zu helfen, sondern auch darüber, Russland zu besiegen – oder, wenn Sie eine andere Sprache bevorzugen, Russland mit allen möglichen Mitteln zum Abzug zu überreden.»

Quellen

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325 Kommentare
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JBV
06.12.2023 20:47registriert September 2021
Das beschriebene Szenario ist erschreckend aber nicht unrealistisch. Es ist kein Zufall, dass jetzt wieder Konflikte geschürt werden Berg-Karabach, Nahost, Südchinesisches Meer, Venezuela... die Serben schauen sicher auch genau hin... Einfach nur entsetzlich.

Wann wachen die westlichen Staaten endlich auf, lösen ihre Blockade und bereiten sich auf das Schlimmste vor.
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Typu
06.12.2023 20:31registriert Oktober 2015
Der Westen ist an Naivität und Dummheit nicht zu überbieten. Dieses zögerliche Unterstützen wird uns noch sehr teuer zu stehen kommen. Aktuell überlebt die Ukraine das nächste Jahr nicht. Was danach kommt, ist ziemlich klar telegrafiert von den Russen. Dort gibts nur noch eine Richtung. Wem das nicht klar ist, ist ein hoffnungsloser Ignorant.
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Marc Fischer (1)
06.12.2023 20:46registriert Oktober 2020
Leider werden auch hier wohl rasch Stimmen auftauchen, die Carlo Masala und Nico Lange als weltfremde Theoretiker darzustellen versuchen. Beide aber haben sich Jahrzehnte ihres Lebens intensiv mit Putin & dem russischen Faschismus auseinander gesetzt. Man sollte besser den beiden zuhören.
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