Anne Applebaum, die bekannte US-Historikerin und Russland-Kennerin, brachte es auf den Punkt: Ein Europa, das sich dauerhaft im Krieg befinde, sei eine Idee, die den meisten Menschen im Westen unmöglich erscheine.
Wladimir Putin sehe das hingegen anders. Als langjähriger KGB-Offizier, stationiert in Dresden, erinnere er sich an die Zeit, als Ostdeutschland vom Kreml regiert wurde.
Spätestens seit der brutalen Invasion in der Ukraine sollte klar sein, dass Putin nicht nur davon träumt, sondern tatsächlich ein neues grossrussisches Reich schaffen will.
Wir seien in «eine neue Ära des Konflikts zwischen Grossmächten eingetreten», analysiert Anne Applebaum. Die Russen wüssten das bereits und hätten den Übergang zu einer umfassenden Kriegswirtschaft vollzogen.
Im Westen scheinen dies viele Verantwortungsträger bis jetzt nicht wahrhaben zu wollen. Wie sonst lassen sich die Versäumnisse bei der Ukraine-Unterstützung erklären?
Angesichts der weiter nur zögerlich erfolgenden Waffenlieferungen und drohender Engpässe ist es ratsam, sich mit dem Worst-Case-Szenario auseinanderzusetzen. Genau dies haben zwei deutsche Politikwissenschaftler getan. Im Folgenden geben wir wichtige Teile ihres Essays wieder.
Was wäre, wenn Russland seinen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gewinnen würde?
Die Politikwissenschaftler Carlo Masala und Nico Lange aus Deutschland haben in ihrem lesenswerten Essay (siehe Quellen) ein dramatisches Szenario skizziert.
* Als Sieg Russlands definieren die beiden Autoren eine Situation, in der Russland «im Rahmen von Verhandlungen oder aufgrund der militärischen Realitäten vor Ort» dauerhaft Teile des ukrainischen Staatsgebietes zugesprochen bekomme.
Masala und Lange begründen in ihrem Essay, wie sie auf das europäische Schreckszenario kommen. Sie betonen, dass es sich um ein Gedankenexperiment handelt. Aber:
Die Politikwissenschaftler führen mehrere Gründe an, warum ein Sieg Russlands katastrophale Folgen hätte.
Die Ukraine bliebe dann ein dauerhafter Krisenherd in Osteuropa. Sowohl die von Russland besetzten Gebiete als auch der Rest der Ukraine wären dauerhaft instabil.
Viele Ukrainerinnen und Ukrainer würden ihr Land verlassen, weil sie nicht in den russisch besetzten Gebieten leben wollen und dort aufgrund der zu erwartenden russischen Repression und Folter nicht überleben können. Andere würden ihr Glück im sicheren Ausland versuchen, weil ihre Heimat keine Perspektive mehr für Erwachsene und Kinder biete.
Sollte Russland als Sieger aus dem Ukraine-Krieg hervorgehen, werde dies dem russischen Nationalismus und Neoimperialismus erheblichen Auftrieb geben, geben Masala und Lange zu bedenken. Der Kreml werde in der Folge neue militärische Angriffe planen, wobei Russlands Nachbarn Georgien und die Republik Moldau ebenso klare Ziele seien wie die baltischen EU-Staaten Estland, Lettland und Litauen.
Dies alles passiere vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass der kollektive Westen angesichts russischer Atomwaffen und russischer Militärmacht eingenickt sei.
Ausserdem werde Russland zu einer offenen politischen Erpressung des Westens übergehen, wobei erneut Energie und Rohstoffe als Waffen eingesetzt würden.
Niemand in Europa wäre mehr sicher, warnen die beiden Politikwissenschaftler. Die «humanitären, wirtschaftlichen und militärischen Kosten» würden rapide steigen.
Ein siegreiches Russland würde den Rechts- und Linksextremisten in vielen europäischen Ländern erheblichen Auftrieb geben: Sie alle sähen sich in ihrer Haltung bestärkt, dass es sich nicht lohne, die Ukraine zu unterstützen.
Russland würde diese Entwicklung mit intensiven Einflussoperationen, offener Unterstützung und Finanzierung von Populisten und Extremisten sowie Desinformation begleiten. Etwas, was Putin schon länger und relativ erfolgreich tut.
Damit stiege die Wahrscheinlichkeit, dass Extremisten ihre politische Macht vergrössern oder gar, wie der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders, Wahlen gewinnen.
Die deutschen Politikwissenschaftler rufen in ihrem Gedankenexperiment selbstverständlich auch die innenpolitischen Entwicklungen in den USA in Erinnerung. Sollte 2024 der Putin-Freund Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt werden, wären die Tage der NATO gezählt.
Genau dies sei auch das Ziel der «neuen Sicherheitsordnung in Europa», die Putin völlig offen anstrebt.
Sollte das transatlantische Verteidigungsbündnis in schwere Turbulenzen geraten und würden die Vereinigten Staaten ihre schützende Hand zurückziehen, würde Russland aufgrund einer solchen Entwicklung wohl in Europa dominieren.
Ein russischer Sieg über die Ukraine hätte nicht nur katastrophale Folgen für Europa, sondern auch für den Rest der Welt, warnen die beiden Politikwissenschaftler in ihrem Gedankenexperiment.
China, Iran und andere demokratiefeindliche Akteure beobachteten genau, wie weit der demokratische Westen bereit sei, entschieden für seine Werte (die universellen Menschenrechte) und die liberale Weltordnung einzustehen.
Aus dieser Perspektive wäre auch die Invasion Taiwans durch China «nicht nur denkbar, sondern höchstwahrscheinlich», halten Masala und Lange in ihrem Essay fest.
Wenn internationales Recht und die globale Sicherheitsordnung nichts mehr gelten, wenn also jedes Land ohne Nuklearwaffen befürchten müsste, überfallen zu werden, hätte dies eine atomare Aufrüstung zur Folge.
Die Politikwissenschaftler:
Die beunruhigende Prognose: Schliesslich gäbe es 15 oder mehr Atommächte statt der derzeitigen neun. Dies würde das Risiko einer verheerenden Fehleinschätzung und die Möglichkeit eines technischen Versagens erhöhen.
Das Gedankenexperiment zeige, dass ein russischer Sieg unabsehbare Folgen für die europäische und globale Stabilität hätte, geben die Wissenschaftler zu bedenken.
Ein russischer Sieg würde uns alle politisch und wirtschaftlich viel mehr kosten. Und er könnte der Anfang von etwas sein, das sich kein Demokrat wünsche, nämlich das Ende der liberalen Weltordnung und der Beginn einer autoritären.
Die Politikwissenschaftler wagen einen versöhnlichen Ausblick: Eine Ukraine, die sich als Mitglied der NATO und der EU vollständig aus der imperialen Herrschaft Russlands befreien könne, würde Europa einen Aufschwung geben. In Bezug auf Sicherheit, Wohlstand und globales Ansehen.
Gleichzeitig würden Putins Niederlage und der wahrscheinlich damit verbundene Sturz seines kleptokratischen Regimes «Chancen für eine friedliche und konstruktive Rolle Russlands in Europa in der Zukunft eröffnen.»
Ob sich diese hoffnungsvolle Prognose der Politikwissenschaftler bewahrheitet, ist zumindest fraglich. Wie heisst es doch unter militärischen Einsatzplanern: Hoffe auf das Beste, und bereite dich auf das Schlimmste vor.
Das letzte Wort soll Anne Applebaum haben:
Wann wachen die westlichen Staaten endlich auf, lösen ihre Blockade und bereiten sich auf das Schlimmste vor.