Das Amateurvideo ist kaum eine halbe Minute lang. Aber es gibt seltenen Einblick in den Strafvollzug im extrem konservativen Saudi-Arabien, den Menschenrechtler als «archaisch» beschreiben und der für westliche Beobachter mittelalterlich anmuten kann: Ein Offizier verpasst dem Blogger Raif Badawi öffentlich vor einer Moschee in der Stadt Dschidda zahlreiche Hiebe.
Immer wieder saust der Schlagstock auf seinen Rücken und seine Beine herab. «Gott ist gross», sagen die Schaulustigen, als die Prügelstrafe vollzogen ist.
Fünf Jahre ist es her, dass ein Gericht das Urteil für den saudischen Wirtschaftswissenschaftler Badawi in letzter Instanz bestätigte. Mit der Entscheidung vom 7. Juni 2015 schwand weitere Hoffnung für Badawis Angehörige, den Fall irgendwie noch zu drehen.
Die saudische Justiz hatte Badawi zu zehn Jahren Haft, einem Reiseverbot samt Geldstrafe von umgerechnet etwa 259 000 Franken und insgesamt 1000 Stockschlägen verurteilt. Der Vorwurf: Mit seinen Blogeinträgen soll er den Islam beleidigt haben, indem er die Trennung von Staat und Religion vorschlug. Er hatte sich auch für die Gleichbehandlung aller Menschen unabhängig von Religion und Weltanschauung eingesetzt.
Inzwischen ist es ruhig geworden um Badawi – obwohl er zu einem der prominentesten politischen Häftlinge in Saudi-Arabien zählt. Nach einem Hungerstreik im vergangenen September, mit dem er gegen seine schlechte Behandlung protestieren wollte, befindet er sich inzwischen wieder in seiner Zelle im Briman-Gefängnis nahe Dschidda. «Ich träume von dem Tag, an dem er endlich freigelassen wird», schrieb seine Frau Ensaf Haidar Mitte Mai bei Twitter.
I am so relieved and thankful: my husband #RaifBadawi started to call me again. He is back in the normal section of the prison and is doing well. I dream of the day when he is finally freed pic.twitter.com/2STJ7hh9Uf
— Raif Badawi (@raif_badawi) May 14, 2020
«Es gibt leider überhaupt keine Anzeichen, dass der Fall noch einmal neu verhandelt wird», sagt Regina Spöttl, Expertin für Saudi-Arabien bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Immerhin habe das Land die Prügelstrafe im April abgeschafft, und saudische Richter könnten diese künftig nicht mehr nach eigenem Ermessen verhängen. «Dieser Tortur wird er wohl nicht mehr unterworfen werden», sagt Spöttl. Von 1000 verhängten Stockschlägen waren Badawi zunächst 50 verabreicht worden. Die wöchentlich geplante Strafe wurde dann immer wieder verschoben, offiziell aus gesundheitlichen Gründen.
Badawis Frau wird nicht müde, für die Freilassung ihres heute 36 Jahre alten Mannes zu kämpfen. «FREE RAIF FREE RAIF FREE RAIF», schreibt Ensaf Haidar alle paar Tage bei Twitter. Im Mai postete sie ein gemeinsames Foto mit den Worten «Ich vermisse deine Umarmungen, Raif», dazu das Emoji eines gebrochenen Herzen. Sie hatte Badawi 2002 geheiratet und war nach seiner Inhaftierung aus Saudi-Arabien geflohen. Inzwischen lebt sie mit den drei gemeinsamen Kindern in Kanada, das der Familie 2013 Asyl gewährt hatte.
Badawi ist ein prominenter, aber längst kein Einzelfall. Mindestens 3000 politische Inhaftierte sitzen in Saudi-Arabien nach Schätzungen von Amnesty International derzeit im Gefängnis. Neben regierungskritischen Bloggern und Journalisten - darunter auch Jamal Khashoggi, der 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul von einem Spezialkommando aus Riad brutal getötet wurde - werden auch Anwälte, Menschenrechtler und Frauenrechtlerinnen verfolgt.
«Unter Kronprinz Mohammed bin Salman kann jeder, der in Saudi-Arabien auch nur daran denkt, zu berichten oder zu schreiben, in einer Gefängniszelle landen», resümierte Nahost-Experte Justin Shilad vom Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) im November. In einer Verhaftungswelle wurden laut CPJ seinerzeit mindestens sieben Autoren festgenommen. Darunter war auch Sulaiman al-Nassir. Er hatte laut CPJ über philosophische Themen abseits der Politik geschrieben. Sein letzter Blogeintrag stammte aus dem Jahr 2016.
Prügelstrafen und die Todesstrafe für Minderjährige hat Saudi-Arabien abgeschafft. Folter im Gefängnissen, Amputationen von Händen oder Füssen als Strafe für Mord oder Wegelagerei sowie Hinrichtungen sind Menschenrechtlern zufolge aber weiter Routine. Allein 2019 wurden in Saudi-Arabien nach Zählung von Amnesty International 184 Menschen geköpft. «Darüber können auch so Reformen wie Rockkonzerte, die Lockerung der Kleiderordnung bei Frauen oder Besuche in Kino und Fussballstadien nicht hinwegtäuschen», so Spöttl. (sda/dpa)
So schnell die Welt sich online empören kann, vergisst sie leider auch alles wieder.