Das Wichtigste in Kürze:
Schon der vergangene Winter hatte Europa eine schlimme Vogelgrippe-Welle gebracht. Nun entwickelt sich die Lage noch dramatischer – und der Winter ist noch lang.
Überlagert von den Meldungen zur Corona-Pandemie spielt sich derzeit ein weiteres Drama weitgehend unbemerkt ab: «Wir erleben in Europa derzeit die stärkste Geflügelpest-Epidemie überhaupt», teilte das Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) auf der deutschen Ostsee-Insel Riems mit. Dort wird an hochansteckenden Viren geforscht.
Täglich kämen neue Fälle hinzu, und das nicht nur bei Wildvögeln, teilen die Seuchen-Bekämpfer mit. «Ein Ende ist nicht in Sicht, die betroffenen Länder reichen von Finnland über die Faröer Inseln bis Irland, von Russland bis Portugal.» Auch aus Kanada, Indien und Ostasien kämen Meldungen. Besonders stark betroffen sei zudem Israel, wo Zugvögel aus Europa gern Zwischenstopp machen.
Für die kommenden Winterwochen seien das keine guten Aussichten, heisst es vom Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit weiter. Es dominiere der Vogelgrippe-Subtyp H5N1, auch H5N8 komme in geringem Ausmass vor.
Allein in Deutschland wurden seit Anfang Oktober 394 Infektionen bei Wildvögeln wie Wildenten, Wildgänsen, Schwänen und Möwen erfasst, hauptsächlich entlang der Küste und insbesondere in Schleswig-Holstein.
Zudem wurden Ausbrüche in Geflügelhaltungen registriert, allein 18 davon in Niedersachsen.
Europaweit wurden den FLI-Daten zufolge in diesem Zeitraum 675 Infektionen bei Wildvögeln und 534 Ausbrüche in Haltungen erfasst.
Hinzu kämen Einzelfälle bei Säugetieren: So seien in diesem Jahr bereits nachweislich Rotfüchse in den Niederlanden und Finnland, Kegelrobben in Schweden, Seehunde unter anderem in Deutschland und Fischotter in Finnland an Vogelgrippe erkrankt.
Israelische Gesundheitsexperten raten der Bevölkerung, sie solle den Kontakt mit Vögeln meiden und auf Besuche von Farmen mit Hühnern und anderen Vögeln verzichten. Von Hauskatzen gebrachte tote Vögel solle man mit Handschuhen entsorgen und sie auf Armeslänge Abstand halten.
In der Deutschschweiz traten vor etwa einem Monat die ersten Fälle auf. Die Krankheit wurde mutmasslich durch Zugvögel aus Süddeutschland eingeschleppt.
Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) hat deshalb vorbeugende Massnahmen beschlossen. Sie betreffen Uferstreifen im Abstand von einem beziehungsweise drei Kilometern entlang der grossen Gewässer des Mittellandes.
In diesen sogenannten Kontroll- und Beobachtungsgebieten dürfen Hühner, Gänse oder anderes Hausgeflügel nur noch unter Auflagen ins Freie. Damit werde der Kontakt mit Wildvögeln und damit die Übertragung der Seuche vermieden, so das BLV. Gänse oder Laufvögel seien zudem von Hühnern getrennt zu halten. Die strengsten Auflagen in den Gemeinden rund um den Seuchenbetrieb wurden bereits wieder aufgehoben, wie es kurz vor Weihnachten hiess.
Die Vogelgrippe ist eine Infektionskrankheit vor allem bei Wasservögeln, die von Zugvögeln oft über weite Strecken verbreitet wird. Schon in der Saison zuvor hatte es von Herbst 2020 bis Frühling 2021 einen gravierenden Seuchenzug in Europa gegeben – der nun wohl noch übertroffen wird.
H5N1 gilt auch für Menschen als potenziell gefährlich, eine Infektion kann in seltenen Einzelfällen tödlich enden. Für H5N8 wurden bisher nur wenige Übertragungen auf den Menschen erfasst. Mensch-zu-Mensch-Übertragungen sind für beide Subtypen bisher nicht nachgewiesen.
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sind mehr als die Hälfte der bestätigten 863 menschlichen Vogelgrippe-Fälle, die sie seit 2003 verfolgt hat, tödlich verlaufen.
Yossi Leshem, einer der renommiertesten Ornithologen Israels, sagte gegenüber The Daily Beast, dass die Fähigkeit dieser Vogelgrippe-Viren, zu neuen Stämmen zu mutieren, ein vergleichbares Bedrohungs-Szenario darstelle, wie man es beim neuen Coronavirus gesehen habe.
«Es könnte eine Mutation geben, die auch Menschen infiziert und in die Katastrophe führt», sagte Leshem, Zoologe an der Universität Tel Aviv und Direktor des Internationalen Zentrums für das Studium des Vogelzugs in Latrun.
Die Gefahr, dass das Virus auf Menschen überspringe, sei «real und sehr besorgniserregend», zitierte die «Times of Israel» am Mittwoch einen der Top-Epidemiologen des Landes, Professor Amnon Lahad.
In Bezug auf die Übertragungsmethode sei es «sehr unwahrscheinlich», dass Menschen durch den Verzehr von infizierten Hühnern oder Eiern an Vogelgrippe erkranken, sagte der Public-Health-Fachmann. Dies liege daran, dass Influenza wie das Coronavirus normalerweise über die Atemwege in den Körper gelange, nicht über den Darm.
Yoav Motro, ein Spezialist für Wirbeltiere und Heuschrecken im israelischen Landwirtschaftsministerium, sagte, dass sich H5N1 vorerst «wie das Gegenteil von Covid» präsentiere. Im Vergleich zum neuen Coronavirus sei die Wahrscheinlichkeit, dass sich Menschen damit infizieren, sehr, sehr gering – aber im Gegensatz zu Covid-19 sei das Risiko, daran zu sterben, wenn man sich ansteckt, sehr hoch.
Laut Medienberichten sind bislang keine Israeli bekannt, die sich mit H5N1 infiziert haben. Personen, die direkten Kontakt zu Wildvögeln hatten, würden als Vorsichtsmassnahme das antivirale Medikament Tamiflu einnehmen.
Die Verhinderung einer möglichen Übertragung auf den Menschen habe das Landwirtschaftsministerium veranlasst, eine grosse Anzahl von Vögeln zu töten – in den letzten Wochen seien etwa 700'000 Tiere gekeult worden, heisst es.
Mit Material der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.