Der Norweger Viggo Kristiansen sass 21 Jahre im Gefängnis – für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat. Nun wurde er freigelassen.
Das ist seine Geschichte:
Es war der 19. Mai 2000, als die achtjährige Stine Sofie Sørstrønen und die zehnjährige Lena Sløgedal Paulsen während eines Ausflugs an einen Badesee im norwegischen Naturpark Baneheia verschwanden. Zwei Tage später wurden die Mädchen gefunden – vergewaltigt und mit einem Messer erstochen.
Die Ermittlungen liefen damals auf Hochtouren. Am Tatort wurden DNA-Proben entnommen, die zeigten scheinbar eindeutig: Zwei verschiedene Männer haben sich an den Mädchen sexuell vergangen und sie erstochen, schreibt die Aftenposten.
Erst Monate später, im September, konnten zwei Verdächtige festgenommen werden: Jan Helge Andersen und Viggo Kristiansen.
In mehreren der am Tatort entnommenen DNA-Proben wurde ein Profil gefunden, das vollständig mit Andersens Probe übereinstimmte. Kristiansen Probe konnte immerhin teilweise in einem Profil nachgewiesen werden, sagte Generalstaatsanwalt Jørn Sigurd Maurud.
Viggo Kristiansen er frifunnet i Baneheia-saken https://t.co/7fjfsijZIZ pic.twitter.com/DGk97II8g4
— Dagbladet (@db_nyheter) December 15, 2022
Andersen gab das Verbrechen bei der Befragung dann auch sofort zu. Und: Er beschuldigte seinen Freund Kristiansen als federführenden Komplizen.
Der damals 21-jährige Viggo Kristiansen wies jeglichen Vorwurf von sich. Er habe nichts mit den Morden zu tun.
Tatsächlich war Kristiansens Handy zum Tatzeitpunkt fast einen Kilometer entfernt vom Tatort eingeloggt gewesen. Doch das galt den Ermittelnden nicht als entlastend genug. Denn der Verdächtige war in seiner Jugend mehrfach wegen sexueller Belästigung und einmal sogar wegen Vergewaltigung eines minderjährigen Mädchens verurteilt worden, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt.
Aufgrund der Aussagen von Andersen wurde Kristiansen am 1. Juni 2001 zu 21 Jahren Gefängnis wegen Vergewaltigung und Mord an Stine Sofie Sørstrønen und Lena Sløgedal Paulsen verurteilt – mit Option zur Sicherheitsverwahrung. Sein Kumpel Andersen wurde zwar ebenfalls verurteilt, allerdings ist er seit Jahren wieder frei, da er aufgrund der Kooperation mit der Polizei eine mildere Haftstrafe bekam.
Während seiner 21-jährigen Haft stellte Kristiansen mehrfach den Antrag auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Gutachter aber bescheinigten wiederholt, dass der Verurteilte nach wie vor gefährlich sei, und so wurde die Mindeststrafe nie angewandt. Dabei pochte Kristiansen stets darauf, dass er unschuldig sei. Kristiansen kam im Juni 2021 auf Bewährung frei.
Die Polizei untersuchte in Oslo die sogenannten Baneheia-Morde erneut. Und plötzlich verdichteten sich die Anzeichen, dass Kristiansen Stine Sofie Sørstrønen und Lena Sløgedal Paulsen tatsächlich nicht vergewaltigt und erstochen hat: Die DNA-Spuren, die mittlerweile viel verfeinerter untersucht werden können als noch vor 20 Jahren, konnten nur noch einen Täter ausmachen. Bereits 2001 hatten Kontrollproben, die in Spanien ausgewertet wurden, eine Unklarheit über die Anzahl der Täter rückgemeldet, wie im Nachhinein bekannt wurde. Allerdings fand der spanische Bericht keine Berücksichtigung vor Gericht, wie eine Expertin gegenüber dem norwegischen Sender Nrk im vergangenen Oktober sagte.
Zudem ist mittlerweile bekannt, dass die DNA-Variante, die 2001 in Kristiansens Probe detektiert worden war – und ihn überführt hatte –, bei über 54 Prozent der norwegischen Männer nachweisbar ist, wie die Aftenposten berichtet.
Im Oktober verkündete Generalstaatsanwalt Jørn Sigurd Maurud, dass alle Vorwürfe gegen Kristiansen fallen gelassen würden. Am Donnerstag hat ihn ein Gericht nun definitiv freigesprochen. Viggo Kristiansen hat den Freispruch angenommen. Genau wie die Staatsanwaltschaft.
Kristiansen hat also fast sein ganzes bisheriges Erwachsenenleben für ein Verbrechen gesessen, das er nicht begangen hat.
Die Tageszeitung Aftenposten bezeichnete den Baneheia-Fall als den «grössten Justizskandal der Nachkriegszeit».
Erst im Oktober sagte Generalstaatsanwalt Maurud der versammelten Presse: «Das Einzige, das wir als Gesellschaft anbieten können, ist eine Entschädigung in Form von Geld». Dem Anwalt des mittlerweile 43-jährigen Kristiansen, Bjørn Gulstad, zufolge könnte sein Mandant umgerechnet mehr als drei Millionen Schweizerfranken an Wiedergutmachung fordern. Mittlerweile hätten sich mehrere Arbeitgeber bei Gulstad gemeldet, um Kristiansen einen Job anzubieten, schreibt die Aftenposten am Freitag.
Im Anschluss an den Freispruch fand am Donnerstagabend eine Pressekonferenz statt. «Ich habe 21 Jahre lang jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde, jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr gelitten», las Anwalt Gulstad aus einem Brief von Kristiansen vor. Sein Leid sei jedoch nichts, verglichen mit dem Leid, das die Hinterbliebenen der Kinder hätten erleben müssen. Er beendet seine Botschaft mit: