Es sind ganze Gruppen toter armenischer Soldaten. Ihre Körper, oder das, was davon übrig geblieben ist, sind verkohlt. Ihre Bilder werden von türkischen Nationalisten, an der Seite Aserbaidschans in einen Kriegsrausch geraten, hundertfach im Internet verbreitet. Eine Art moderne Kriegstrophäen. Die vor allem eines zeigen: Das Leben von Soldaten, es sind vorwiegend junge und sehr junge Männer, hat 2020 im Krieg vielleicht weniger Wert denn je.
Soldaten sind Kanonenfutter, waren sie schon immer. Aber nun ist die Gefahr am Himmel praktisch lautlos geworden, sie hinterlässt kaum Spuren, sie ist kaum zu erahnen. Wohl sind Drohnen im Kampfeinsatz kein neues Phänomen, aber der offene Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien, der seit Ende September in der Region Bergkarabach herrscht, setzt neue Massstäbe. Es sind türkische Kampfdrohnen, die diesen Krieg prägen und Aserbaidschan Vorteile verschaffen.
Denn sie schlagen täglich zu, oft dutzendfach. Während in den ersten Kriegstagen vor allem schwere Waffen Armeniens – Panzer, Artillerie, Flugabwehrsysteme, Mehrfachraketenwerfer – zerstört wurden, sind mittlerweile auch «weichere» Ziele ins Visier geraten. Stellungen in Schützengräben werden ebenso gnadenlos bombardiert wie kleinere Gruppen von Soldaten. Manchmal auch in der Nacht. Dann hören die Kämpfer nicht einmal das Zischen, bevor die Rakete einschlägt.
Aserbaidschan sendet damit vor allem ein Signal aus: Kein armenischer Soldat ist sicher im Konfliktgebiet. Nirgends. Es ist eine Drohnenhatz fast ohne Beispiel: systematischer, tödlicher, mit vernichtender Wirkung auf die Moral. Rund 200 gepanzerte Fahrzeuge und etwa 300 ungepanzerte Fahrzeuge, mobile Radarsysteme oder Abschussrampen für Raketen – so viele seien seit Ende September zerstört worden, rechnet das US-Magazin Forbes vor.
Geliefert werden die Kampfdrohnen von der Türkei, sie ist wichtigster Verbündeter Aserbaidschans. Die Drohnen können mit bis zu acht Luft-Boden-Raketen bestückt werden und mehr als 24 Stunden in der Luft bleiben. Sie können ein Ziel aufklären und es später auch gleich angreifen. Und sie tragen einen Namen, den man von türkischer Seite gerne als symbolträchtig verstanden hätte: «Bayraktar TB2». Zu deutsch: «Fahnenträger».
In Bergkarabach kommen sie zusammen mit der «Anka»-Drohne zum Einsatz, ein älteres Modell, das vom staatlichen türkischen Rüstungsbauer «Turkish Aerospace Industries» entwickelt wurde. Die «Bayraktar TB2» ist in Konfliktgebieten mindestens seit 2016 im Einsatz. Damals wurden sie gegen Kämpfer der Terrormiliz «IS» eingesetzt, 2018 fiel Ismail Özden, Symbolfigur des jesidisch-kurdischen Widerstands gegen einen «IS»-Sturmangriff auf Sindjar in den Bergen Nordiraks, bei einem türkischen Drohnenangriff.
Die Herstellerfirma der «TB2», Baykar Technologies, gehört Selçuk Bayraktar, der heute auch als Entwicklungschef fungiert. Er ist einer der Schwiegersöhne des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Selbiges trifft auch auf Berat Albayrak zu, Finanzminister im Kabinett Erdogans. Als die Regierung im August 2020 die türkische Drohnenforschung mit 100 Millionen Dollar alimentierte, sorgte das für Kritik, für den Vorwurf der Vetternwirtschaft. Das berichtete die israelische Zeitung Haaretz.
Ihrem Drohnenprogramm – und dem Einsatz tausender syrischer Söldner, die in Lohn und Brot stehen – verdankt die Türkei jüngste militärische Erfolge. Im Norden Syrien etwa, wo im Frühjahr ein Vormarsch Assad-treuer Milizen in der Provinz Idlib gestoppt werden konnte. Oder in Libyen, wo im Sommer der Fall der Einheitsregierung Fayez al-Sarrajs verhindert und das Blatt auf dem Schlachtfeld gewendet werden konnte.
Und auch in Bergkarabach zeigt das Bombardement Wirkung. Die aserbaidschanischen Truppen sind auf dem Vormarsch. Unklar ist, wie gross ihre Verluste sind. Im Land gilt das Kriegsrecht, Opferzahlen werden zensiert. Armenien hingegen meldet hohe Verluste und kaum erfolgreiche Drohnenabschüsse. Und wenn doch einmal eine vom Himmel fällt: Drohnen sind einfacher zu ersetzen als Kampfjets. Sie sind unbemannt, ihr Betrieb ist weniger aufwändig, sie sind einfacher zu steuern. Und sie kosten nur einen Bruchteil.
Während die Öl- und Gas-Milliarden der aserbaidschanischen Armee einen Modernisierungsschub ermöglichten, kämpfen die armenischen Truppen mit veralteten Waffensystemen aus sowjetischen Beständen. Aber nicht allein das ist ausschlaggebend. Denn auch moderne russische Flugabwehrsysteme kommen der Gefahr von oben nicht oder nur ungenügend bei: In Syrien und Libyen wurde Berichten zufolge Systeme vom Typ Pantsir-S1 im Dutzend ausgeschaltet, wobei die Drohnenaufnahmen kurz vor den Angriffen eingeschaltete Radarsysteme zeigten.
Ein eigenes Drohnenprogramm treibt auch Armenien voran. Einige Quellen sagen zudem, Russland habe vor Jahren mehrere Exemplare des Typs «E5» geliefert. Konkurrenzfähig ist das Drohnenprogramm bis heute nicht.
Derweil wird in Istanbul bei Baykar eine neue, noch schlagkräftigere Drohne entwickelt. Sie heisst «Akinci», Sturmreiter. Sie ist deutlich grösser als die «TB2» und kann das Gewicht von nahezu einer Tonne als Bewaffnung tragen. Ihre Steuerung erfolgt über Satelliten, was die Reichweite vergrössert. Und auch die Konkurrenz von «Turkish Aerospace Industries» werkelt an einem neuen Drohnentypen namens «Aksungur», in Sachen Grösse, Reichweite und Bewaffnung ungefähr der «Akinci» ebenbürtig.
Dass das türkische Drohnenprogramm gleich mehrere Feuertaufen überstanden hat, weckt auch anderswo Begehrlichkeiten. Brisant ist etwa, dass die Ukraine zu den «TB2»-Käufern gehört. Im Osten des Landes bekriegen sich noch immer von Russland militärisch und logistisch unterstützte Separatisten mit Regierungstruppen. Diese geben an, die Drohnen in Kürze in den Kampfeinsatz schicken zu wollen.
Es wäre – nach Syrien, Libyen und aktuell Bergkarabach – der vierte Krieg, in dem die Türkei und Russland eine Art von Stellvertreterkonflikt ausfechten. Die Ukraine ihrerseits gehört mit dem Drohnenerwerb jenem eher überschaubaren Zirkel an Ländern an, der zu dieser Form von Kriegsführung überhaupt fähig ist. Dazu gehören Staaten wie die USA oder China, aber auch der Iran oder Pakistan.
Aserbaidschan und Armenien geben jeweils vier oder mehr Prozent ihres Bruttoinlandprodukts für Rüstungsausgaben aus und gehören damit nach Angaben des International Center for Conversion in Bonn zu den zehn am stärksten militarisierten Ländern der Welt.
Wirtschaftlich stehen beide Länder unter Druck, wobei die fallenden Öl-Preise vor allem Aserbaidschan zu schaffen machen. Und während in Armenien seit dem Regierungswechsel 2018 zaghafte Schritte hin zu mehr Demokratie sichtbar sind, regiert Ilham Alijew im Nachbarland seit 2003 mit eiserner Hand.
Auf die Regierung in Baku machen ausserdem nationalistische Kreise Druck: Jüngst forderten sie Alijew auf, Bergkarabach zurückzuerobern. Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium verstieg sich gar zur offen formulierten Drohung, mit dem Beschuss eines Atomkraftwerks in Armenien eine nukleare Katastrophe auslösen zu wollen.
Der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan hat Russlands Präsident Wladimir Putin um Unterstützung gebeten. Russland betreibt eine Militärbasis im Land, eine etwaige Unterstützung Armeniens ist vertraglich geregelt. Der Kreml liess verlauten, man werde Hilfe leisten, sollten sich die Kämpfe auf armenisches Gebiet ausweiten.
Die internationale Gemeinschaft hat seit dem 10. Oktober mehrfach versucht, Waffenruhen aufzugleisen – vergeblich. Die beiden Anläufe unter russischer Aufsicht scheiterten ebenso wie jene Vereinbarung, die auf Initiative der USA abgeschlossen wurde. Beide Seiten erklärten sich aber gegenüber der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) bereit, einen weiteren Versuch einer Feuerpause zu prüfen.
Tatsächlich gilt in der Region seit 1994 bereits eine Waffenruhe, die sich aber immer wieder als brüchig erwiesen hat. Sie setzte einen vorläufigen Schlusspunkt unter den offenen Konflikt, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ausgebrochen war.
(tat)
Es wäre Zeit für eine Intervention zu Gunsten der lokalen Bevölkerung.
Sollte die Internationale Gemeinschaft nicht eingreifen droht ein weiterer Genozid.
Macht man ja sonst so gerne mit dem Moralfinger...