Die Worte von Walerij Saluschnyj lassen aufhorchen. «Die Russen bereiten ungefähr 200'000 frische Soldaten vor. Ich habe keine Zweifel, dass sie es in Kiew nochmals versuchen werden», sagte der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte in einem Interview mit The Economist. Er erwarte eine neue russische Offensive in diesem Winter, so Saluschnyj.
Er ist nicht der Einzige, der vor diesem Szenario warnt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und der Verteidigungsminister teilten die Einschätzung in Interviews und Pressekonferenzen der vergangenen Woche.
Selenskyjs Berater, Mychajlo Podoljak, schlug ähnliche Töne an. Gegenüber der New York Times sprach er von «massiven Infanterie-Attacken», die Russland möglicherweise vorbereite. «Die politische Führung Russlands weigert sich eindeutig, die bereits erlittenen taktischen Niederlagen anzuerkennen, und ergreift jede noch so illusorische Chance, die Situation zu ihren Gunsten zu verändern», so Podoljak.
Wird Russland nach dem Debakel im Winter 2022 erneut versuchen, die ukrainische Hauptstadt einzunehmen?
Experten sind skeptisch. Sie vermuten, dass die Ukrainer aus anderen Gründen vor einem erneuten Angriff auf Kiew warnen.
Die Vereinigten Staaten würden keine Anzeichen für einen «unmittelbar bevorstehenden Angriff auf Kiew» sehen, sagte etwa der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, John F. Kirby.
Von einem «eher unwahrscheinlichen Szenario», spricht der US-amerikanische Militär-Experte Michael Kofman im Podcast «The War on the Rocks». «Sie haben erhebliche Munitionsengpässe, und die Leistungsfähigkeit des russischen Militärs ist derzeit sehr eng mit der Verfügbarkeit von Artilleriemunition verbunden.»
Obschon die Russen im Herbst bis zu 300'000 neue Soldaten mobilisiert haben, bezweifelt auch Pascal Ausseur, Direktor der Mittelmeer-Stiftung für strategische Studien, dass wirklich ein Angriff auf Kiew geplant ist. Der Analyst glaubt, dass die Warnungen der Ukrainer an den Westen gerichtet sind.
Denn die ukrainische Armee ist nach wie vor auf Waffenlieferungen angewiesen. «Die Ukrainer rufen ‹helft uns weiter, lasst uns nicht im Stich›», sagte Ausseur gegenüber AFP.
Tatsächlich platzierte Saluschnyj in seinem Interview mit «The Economist» auch eine Forderung an den Westen. «Ich weiss, ich kann diesen Gegner besiegen», so der Oberkommandierende. «Aber ich brauche Ressourcen. Ich brauche 300 Panzer, 600–700 Kampffahrzeuge für die Infanterie und 500 Haubitzen.»
Wie der Analyst Ausseur sagt, könnten die Warnungen der Ukraine auch ein Ablenkungsmanöver sein. Er vermutet, dass die ukrainische Armee einen Gegenangriff im Südosten des Landes vorbereitet.
In den vergangenen Wochen wurden vermehrt Stellungen in der besetzten Stadt Melitopol angegriffen. Ein Frontdurchbruch in dieser Region ist deshalb ein oft diskutiertes Szenario.
Dennoch: Völlig aus der Luft gegriffen sind die Warnungen der Ukrainer nicht. «Wir wissen, dass Russland weiterhin versucht, offensiv zu handeln», sagte etwa der Pentagon-Sprecher Pat Ryder.
Die Experten des «Institute for the Study of War» (ISW) gehen davon aus, dass Russland immer noch die ganze Ukraine einnehmen will. «Putin verfolgt in der Ukraine weiterhin maximalistische Ziele», schreiben die Analysten. «Dieses Ziel hat den verschiedenen militärischen, politischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Bemühungen des Kremls in den letzten 10 Monaten zugrunde gelegen.»
Allerdings präsentiert sich die Lage im Feld alles andere als günstig für die Russen. Im November verloren sie fast 4000 Quadratkilometer Land. Dabei mussten sie sich aus der symbolisch und strategisch wichtigen Stadt Cherson zurückziehen.
Over the month of November 🇺🇦 has liberated approximately 3,850km² of Ukraine.
— War Mapper (@War_Mapper) December 1, 2022
This means that 🇷🇺 currently occupies ~16.66% of Ukraine. ~0.64% less of the total area of the country than at the end of October. pic.twitter.com/MlWn05g8RX
Momentan finden vor allem im Osten des Landes heftige Kämpfe statt. Und wenn man den abgefangenen Telefonaten Glauben schenkt, läuft bei den Invasoren vieles schief.
«Ich halte mich mit meiner letzten Kraft am Leben ... aber es ist grauenhaft», erzählt ein russischer Soldat seinem Vater. In seinem Zug gebe es drei Verletzte, alle seien mit ihren Nerven am Ende.
In this intercepted call, the Russian mobilised soldier in the Donetsk area is talking to his father, expressing his concern about the intensity of battles. pic.twitter.com/xe06kaMQQH
— Dmitri (@wartranslated) December 15, 2022
Der Kämpfer, der in der Region Donezk stationiert ist, beklagt die mangelnde Unterstützung durch die Artillerie. Zwischen den Kompanien gebe es praktisch keine Kommunikation und die Koordinaten würden nicht ausgetauscht. «Es ist ein völliges Chaos», sagt der Soldat mit tränenerstickter Stimme.
Die Ausbildung seiner Kollegen sei schlecht, so der Soldat. «Wir haben so viele Leute mobilisiert, hätten wir die nicht trainieren können?», fragt er und beschwert sich über die militärische Führung. «So viele Spezialisten sitzen in Moskau, St.Petersburg und Woronesch, über 100'000. Aber sie haben alle Angst, hierherzukommen.»