Vor 24 Stunden sah es so aus, als würde in Russland, in einem Land mit 6000 Atomsprengköpfen, ein Bürgerkrieg ausbrechen. 25'000 bewaffnete Wagner-Söldner bewegten sich in einem Konvoi auf Moskau zu. Auf ihrem Weg zerstörten sie mindestens sechs Kampfhubschrauber der russischen Armee und töteten dabei ihre Insassen. Als Wladimir Putin den Meuterern mit den härtesten Konsequenzen drohte, standen alle Zeichen auf Blutvergiessen. Doch dann die Wende. Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko verkündete einen Kompromiss zwischen Putin und Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin. Kurz darauf befahl Prigoschin den Rückzug seiner Söldner ins Feldlager.
Viele Experten rieben sich verdutzt die Augen. Der undurchsichtige Machtapparat im Kreml erschien plötzlich in einem neuen Licht. Und das wirft Fragen auf.
«Noch nie wurde Putins Schwäche dermassen entlarvt wie während des Putschversuches von Prigoschin», analysiert Russland-Expertin Luzia Tschirky beim SRF. Der russische Machthaber zeige dabei ein ganz neues Gesicht: «Er, der sich immer als entschlossen und unerbittlich inszenieren wollte, wirkt vom Aufstand völlig überfordert und in die Enge getrieben. Nicht nur Putins Worte verloren an Glaubwürdigkeit, sondern auch sein Sicherheitsapparat wirkte so schwach wie nie.»
Tschirkys Analyse entspricht dem Expertenkonsens. Putins Fassade als eisenharter Regent ist in sich zusammengefallen. Damit verliert er einen Grundpfeiler seines Machtsicherungsapparates, schreibt Brian Whitmore von der Texas-Arlington-Universität auf der Plattform Atlanticcouncil.org: «Ein politischer Wandel ist in Russland nur möglich, wenn drei Faktoren vorhanden sind:»
«Wenn die Angst aus der Gleichung gestrichen wird, dann ist das Regime in Gefahr», argumentiert Whitmore.
Wladimir Putin wird alles daran setzen, das Klima der Angst wieder zu installieren. Davon ist Brian Whitmore überzeugt: «Prigoschin wird einen hohen Preis für seine Rebellion zahlen.» Das sieht auch William Weschler, der frühere stellvertretende US-Minister für Sondereinsätze und Terrorismusbekämpfung, so: «Prigoschin sollte sich von Fenstern in oberen Stockwerken fernhalten. In den vergangenen Jahren haben sich Putins Gegner dort besonders ungeschickt angestellt.»
Weschler glaubt nicht, dass mit dem Lukaschenko-Kompromiss die Geschichte ein Ende gefunden habe: «Es ist vielmehr der Anfang. Einige Dinge sind in dieser sich wandelnden Welt konstant. Eines davon ist, dass nur eine relativ kleine Anzahl von Menschen alle wichtigen Entscheidungen in Russland trifft. Jeder davon hat viel Geld, viele Waffen oder beides. An bestimmten Punkten in der Geschichte konkurrieren diese Eliten untereinander, um zu bestimmen, wer an der Spitze steht. Das führt dazu, dass eine Person das Sagen hat, einige sterben und die anderen sich einreihen. Die jüngsten Ereignisse sind als jüngste Episode in dieser jahrhundertelangen Geschichte zu verstehen.»
Neben Prigoschin werden auch Verteidigungsminister Sergei Schoigu und der Chef des Generalstabs Waleri Gerassimow als mögliche Bauernopfer genannt. Beide standen im Zentrum von Prigoschins Kritik und sind seit dem Putschversuch nicht mehr gesehen worden. Sie könnten Teil des Lukaschenko–Deals gewesen sein.
Bereits seit einigen Wochen wird spekuliert, dass das Verhältnis der Freunde Putin und Schoigu, die auch schon den Sommerurlaub zusammen verbrachten, merklich abgekühlt sei.
Auf eine ganz andere Gefahr verweist Steven Kotkin vom Freeman Spogli Institut für Internationale Studien in Stanford in einem Interview mit «Foreign Affairs»: «Putin könnte auch etwas Radikales tun, um abzulenken und die Oberhand zu gewinnen. Er hat den Kachowka-Damm gesprengt. Was ist mit dem Kernkraftwerk in Saporischschja? Putin könnte es explodieren lassen und die Ukraine verstrahlen.»
Zu einem Zusammenbruch der russischen Streitkräfte kam es bisher nicht. In der Nacht auf Sonntag wurde Kiew erneut mit Raketen beschossen und die ukrainischen Streitkräfte trafen bei ihren Offensiven im Süden und Osten auf erbitterten Widerstand. Trotzdem analysiert der «Guardian», dass die jüngsten Ereignisse der Ukraine einen Vorteil verschaffen: «Es ist unmöglich, die weiteren Folgen abzuschätzen, aber die Rebellion, auch wenn sie nur von kurzer Dauer war, dürfte der Ukraine zugutekommen.» Der Grund liege darin, dass der Fokus der Militärführung, wenigstens vorübergehend, sich auf die Ereignisse im eigenen Land konzentrierte.
Nicht ganz derselben Meinung ist Doug Klain. Er ist Analyst am Eurasia Center des Atlantic Council: «Letzten Endes ging es bei dieser Rebellion um eine Meinungsverschiedenheit darüber, wie Russlands unprovozierter Vernichtungskrieg gegen die Ukraine am besten weitergeführt werden sollte. Es ist wahrscheinlich, dass dem Chef der Wagner-Gruppe dabei erhebliche Zugeständnisse gemacht worden sind, oder Wagners Rolle bei den Kriegsanstrengungen erheblich aufgewertet wurde. Sollte Wagner schnell an die Front zurückkehren, wird Kiew möglicherweise nicht das totale Chaos erleben, das es sich für einen Sieg auf dem Schlachtfeld erhofft hatte.»
Inwiefern der Aufstand Auswirkungen auf die Moral der russischen Soldaten hat, ist derzeit nicht abzusehen. Es existieren Videos von regulären russischen Einheiten, die während des Putsches ihre Solidarität mit den Wagner-Truppen verkündeten. Ob diese aufs Schlachtfeld in der Ukraine zurückkehren, ist indes unklar. Prigoschin ist in Belarus im Exil und die Söldner, die nicht am Aufstand teilnahmen, erhalten ein Angebot, sich in die russische Armee einzugliedern. Damit besteht die Möglichkeit, dass die berüchtigte Söldnertruppe aufgelöst wird.
Wenig hat sich geändert seit dem 1. Oktober 1939, als Winston Churchill in einer Radioansprache sagte: «Russland ist ein Rätsel, umgeben von einem Mysterium, das in einem Geheimnis steckt.»
Das Erstere lässt sich problemlos chemisch erzeugen.
Ich habe das Gefühl, dass wenn der Kreml nicht bald ein neues Organigramm publiziert es wieder los geht .
Der Testlauf kann man ja als Erfolg für Wagner werten.