Gegen Ende des Jahres 2022 verging praktisch keine Woche, in der nicht Wladimir Putin oder einer seiner Höflinge der Ukraine und Europa mit Atomschlägen drohten. Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow beispielsweise wollte Polen angreifen, Dmitri Medwedew drohte direkt mit einem Atombombenschlag auf Berlin oder London.
Auch wenn es sich bei den Aussagen unzweifelhaft um propagandistische Aussagen handelte, die nicht für bare Münze genommen werden konnten, so hat sich die Regierung der Vereinigten Staaten in dieser Zeit ausführlich damit auseinandergesetzt, wie man auf einen entsprechenden Angriff der Russen mit Atomwaffen reagieren würde.
Grund zur Annahme, dass Russland tatsächlich Ernst machen könnte, gaben abgehörte Gespräche zwischen russischen Militärbeamten, wie die New York Times jetzt enthüllt. Die besorgniserregendste aller Aufnahmen sei gewesen, als einer der ranghöchsten russischen Militärkommandanten eindeutig über die logistischen Herausforderungen beim Transport einer taktischen Atomwaffe sprach.
Zwar habe man keine bestätigten Hinweise darauf gefunden, dass tatsächlich nukleare Waffen bewegt wurden. Allerdings dämmerte den US-Amerikanern zu diesem Zeitpunkt, dass Russland den Einsatz von Atomwaffen wirklich in Betracht ziehen könnte – wenn die ukrainischen Streitkräfte weiter Boden gutmachten und zum Beispiel der Verlust der Krim drohen würde. Laut Berechnungen der CIA hätte ein solches Szenario die Wahrscheinlichkeit eines Atomwaffeneinsatzes auf bis zu 50 Prozent gesteigert.
Auch wenn es sich dabei um eine Schätzung handelte, so sei klar gewesen:
Diese Aussage stammt von Ex-US-General Mark Milley, der bis im September 2023 als Generalstabschef der Streitkräfte der Vereinigten Staaten amtete.
Als Folge dieser Erkenntnisse begann das Weisse Haus, sich intensiv mit möglichen Reaktionen auf einen russischen Atomwaffeneinsatz zu befassen. Im Vordergrund stand dabei das Szenario eines Einsatzes von taktischen Atomwaffen der Russen in der Ukraine – also Waffen mit verheerender Wirkung, aber begrenztem geografischem Wirkungsradius.
Laut David E. Sanger, «Times»-Journalist und Autor des Buches «New Cold Wars: China's Rise, Russia's Invasion and America's Struggle to Defend the West», war für US-Präsident Joe Biden klar, dass die USA nicht mit dem Einsatz von Atomwaffen ihrerseits reagieren könnten – zu gross wäre das Risiko gewesen, das komplette Chaos und einen Atomkrieg auszulösen.
In Betracht gezogen wurde deshalb dem Bericht zufolge insbesondere der Einsatz von konventionellen Waffen gegen jene Einheiten, die die Atomwaffen abgefeuert hätten. Klar war für die Amerikaner, dass eine Antwort auf ein solches Vorgehen der Russen essenziell gewesen wäre – hätten sie die Füsse einfach stillgehalten, so hätte man «jeden anderen autoritären Staat mit einem Atomwaffenarsenal ermutigt, diese einzusetzen».
Nebst den konkreten Plänen für eine Reaktion versuchte die US-Regierung aber vor allem auf diplomatischer Ebene einen russischen Atomwaffeneinsatz zu verhindern. Mehrere hochrangige Mitglieder von Bidens Regierung wie Aussenminister Antony Blinken oder Verteidigungsminister Lloyd Austin hätten ihre russischen Amtskollegen kontaktiert und interveniert.
Zudem sei der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz zu diesem Zeitpunkt zu einem Staatsbesuch bei Chinas Präsidenten Xi Jinping gereist – mit den US-Geheimdienstinformationen im Gepäck und bereit, diese Xi vorzulegen und damit ebenfalls eine Intervention zu erwirken. Xi Jinping sollte dazu gedrängt werden, eine öffentliche Stellungnahme gegen den Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg abzugeben – diese gab der chinesische Präsident dann auch tatsächlich ab.
Die Enthüllungen von «Times»-Journalist Sanger sind besonders im Hinblick auf Wladimir Putins jüngste Drohungen mit einem Atomwaffeneinsatz interessant – erst Ende Februar erneuerte Putin seine Drohungen, nachdem er zuvor für längere Zeit darauf verzichtet hatte.
Damals hat die NATO Öffentlich gesagt, dass sie die russischen Kriegsschiffe und U-Boote mit konventionellen Waffen auslöschen, falls sie die Ukraine mit Atomwaffen angreifen. Wüsste nicht, was dabei neu ist.