Streiken ist in Frankreich schon fast ein Kulturgut. Da ist der Inhalt der Rentenreform noch gar nicht im Detail bekannt – und trotzdem sind schon Tausende auf die Strasse: Im Nachbarland wird seit fünf Tagen gestreikt. Ein Ende ist nicht in Sicht. Hier ein Überblick der Lage:
Millionen Pendler hatten auch an diesem Montag Mühe, an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Die anhaltenden Streiks haben im Pariser Grossraum abermals Hunderte Kilometer Stau verursacht. Gegen 8 Uhr am Morgen staute sich der Verkehr dort auf rund 600 Kilometern, wie der Verkehrsdienst Sytadin mitteilte. Normalerweise sind es etwa halb so viel.
Die Pariser Metro und Vorstadtzüge werden auch immer noch bestreikt – es ist bereits der fünfte Tag in Folge, an dem es massive Störungen im öffentlichen Verkehr gibt. Auch zahlreiche Züge des Fernverkehrs fallen aus; lediglich rund 20 Prozent der Hochgeschwindigkeitszüge TGV sind nach Angaben der französischen Staatsbahn SNCF im Einsatz. Viele Pendler steigen auf Autos, E-Tretroller und Motorräder um.
Am Wochenende gingen in Paris und Marseille tausende Menschen auf die Strasse. Bereits letzten Donnerstag protestierten nach Behördenangaben mehr als 800'000 Menschen, die Gewerkschaft CGT zählte 1,5 Millionen Teilnehmer. Sicher ist: Es war eine der grössten Demonstrationen der vergangenen Jahre.
Auf der einen Seite stehen vor allem Arbeitnehmer aus dem öffentlichen Dienst.
Es sind sie, die in erster Linie von der Rentenreform betroffen sind: Mitarbeiter des nationalen Bahnunternehmens SNCF, der Pariser Verkehrsbetriebe RATP, Spitalangestellte, Polizisten und Mitarbeiter des Stromversorgers EDF. Auch die Studierenden schlossen sich dem Streik an, in mehreren Städten beteiligt sich die Müllabfuhr sowie viele Lehrer, Schulen bleiben geschlossen.
Auf der anderen Seite steht die Regierung um Präsident Emmanuel Macron und Premier Edouard Philippe.
Die Regierung will Frankreichs kompliziertes Rentensystem reformieren und die Privilegien für bestimmte Berufsgruppen abschaffen. Macron hofft damit die ständig steigenden Kosten in den Griff zu bekommen.
Es gibt in Frankreich 42 verschiedene Rentensysteme für verschiedene Berufsgruppen, darunter auch die sogenannten «régimes spéciaux» mit speziellen Privilegien für Beschäftigte von Staatsunternehmen und Beamte.
Angestellte der RATP konnten zum Beispiel bisher teilweise ab 52 Jahren in Ruhestand gehen. Einiges früher als Beschäftigte in der Privatwirtschaft, die sich erst mit durchschnittlich 63 pensionieren lassen. Die Eisenbahner der SNCF ihrerseits beziehen in der Regel monatlich fast 1000 Euro mehr Rente als der Durchschnitt.
Hauptziel der geplanten Reform ist es, ein einheitliches System zu schaffen.
Das Team um Präsident Macron betont in jedem Interview, dass die «régimes spéciaux» defizitär sind.
Ausserdem seien diese Privilegien gegenüber der restlichen Bevölkerung ungerecht. Macron will deshalb ein Universalsystem für alle mit einem Punktesystem, bei dem jeder einbezahlte Euro Anrecht auf einen Euro Rente gibt. Zu den Verlierern zählen also jene, die bisher von einem besonders grosszügigen Rentensystem profitierten.
Im Detail sind die Pläne aber noch gar nicht publik, viele Punkte will Premier Edouard Philippe erst am Mittwoch präsentieren.
Während das allgemeine Rentensystem für die Privatwirtschaft 1945 eingeführt wurde, sind viele «régimes spéciaux» um einiges älter. Dasjenige der SNCF stammt aus dem 18. Jahrhundert, als die Eisenbahnen noch mit Kohle betrieben wurden. Die Spezialkasse für Armeeangehörige ihrerseits entstand laut dem Fernsehsender France Culture im 17. Jahrhundert, als König Ludwig XIV. loyale Männer brauchte und für Verletzte und alte Soldaten das «Hôtel des Invalides» bauen liess.
Es ist nicht das erste Mal, dass das Renten- und Sozialversicherungssystem für Knatsch sorgt. Andere Regierungen haben sich daran die Zähne ausgebissen: Der frühere Premierminister Alain Juppé hatte 1995 versucht, es zu reformieren. Streiks legten Frankreich in der Folge wochenlang lahm. Die Regierung machte schliesslich einen Rückzieher.
Hart getroffen von den Streiks ist das Weihnachtsgeschäft, da die Kunden wegen der Transportprobleme ihre Einkäufe im Internet tätigen. In den Zentren der Städte haben Händler dieses Jahr bereits herbe Einbussen vermerken müssen – wegen der Gelbwesten-Proteste. Letztere marschieren auch an vielen der aktuellen Protestaktionen mit.
Für Touristen haben die branchenübergreifenden Streiks ebenfalls negative Auswirkungen: Wegen der Streiks blieb teils auch der Eiffelturm geschlossen, weil es nicht ausreichend Personal gab, um die Touristenattraktion an der Seine zu öffnen.
Für die kommenden Tage ist keine Entspannung in Sicht. Bereits für Dienstag ist ein weiterer Massenprotest geplant.
Der Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes CGT, Philippe Martinez, kündigte an, die Gewerkschaften würden mit ihrem Protest so lange durchhalten, «bis sich die Regierung von der Reform verabschiedet.»
Am Mittwoch will Premierminister Edouard Philippe die Pläne dann im Detail vorstellen. Dass Macron einen Rückzieher macht, ist unwahrscheinlich. Es ist eines der zentralen Projekte seiner Präsidentschaft. Es ist aber zu erwarten, dass ihm gewisse Zugeständnisse abgerungen werden können.
*Mit Material der SDA.
Extrawürste sind ein Affront sondergleichen. Egal aus welchem Jahrhundert die stammen. Solch ähnliche Sonderprivilegien gibt's auch hier. Gehören auch abgeschafft.