«Richard Wagner ist der umstrittenste Künstler aller Zeiten.» Mit diesem Satz beginnt ein 30 Jahre altes Buch des amerikanischen Ex-Diplomaten und Historikers Frederic Spotts über die Festspiele im fränkischen Bayreuth, die der Komponist 1876 gegründet hatte und an denen bis heute alljährlich im Sommer seine Opern gezeigt werden – und nur diese.
Ein solcher Doppel-Superlativ ist fragwürdig. Im Fall von Richard Wagner trifft er zu. Er wird so kontrovers beurteilt wie kaum ein anderer Künstler. Mit den Büchern über ihn kann man Bibliotheken füllen. Und das dürfte auf alle Zeiten so bleiben. Denn Wagner, geboren 1813 in Leipzig und gestorben 1883 in Venedig, ist eine absolut singuläre Figur.
Und ein Idol für viele, besonders aber für Faschisten. Adolf Hitler verehrte ihn. Die mörderischen russischen Wagner-Söldner, deren Chef Jewgeni Prigoschin letzte Woche (vermutlich) das Zeitliche gesegnet hat, wurden nach ihm benannt. Für die Fans seiner Musik ist das ein schwer erträgliches Dilemma. Und keineswegs das einzige.
«Das Werk ihres Urgrossvaters Richard Wagner konnte schon immer vielfältig gedeutet werden», hielt Katharina Wagner, die heutige Leiterin der Bayreuther Festspiele (an deren Spitze stand immer mindestens ein Mitglied der Familie), in einem Gastbeitrag für «Die Welt» fest. Jetzt, in Russland, erlebe diese Tradition «ein furchtbares Comeback».
Die Musik ist ein wichtiger Aspekt. Manche nerven sich bis heute darüber, empfinden sie als grossspurigen und wirren Soundteppich, doch Psychologen attestieren ihr einen hohen Suchtfaktor. Auf den Spielplänen der Opernhäuser sind seine Werke omnipräsent. Denn Wagner ist ein Publikumsmagnet, auch für den Verfasser dieser Zeilen.
Mein Musikgeschmack ist sehr breit. Ich kann selbst Hip-Hop einiges abgewinnen (nur mit Techno könnt ihr mich jagen). Aber wenn ich einen Lieblingskomponisten auswählen müsste, würde ich keine Nanosekunde zögern und sagen: Richard Wagner! Gerade erst habe ich wieder einmal die Festspiele in Bayreuth besucht und kam voll auf meine Kosten.
Das lag auch an der Ukrainerin (!) Oksana Lyniv, die Wagners Frühwerk «Der fliegende Holländer» furios dirigierte. Ein Statement gegen Krieg und Prigoschin? Lyniv stand schon bei der Premiere vor zwei Jahren am Pult, als erste Frau in der Geschichte der Festspiele. Doch nun dürfte sich Katharina Wagner insgeheim zu ihrer Wahl gratulieren.
Der «Holländer», inszeniert vom Russen (!) Dmitri Tcherniakov, gilt als vergleichsweise unproblematisch, aber er illustriert einen Teil des Problems. Richard Wagner bediente sich für seine Opern oder Musikdramen (er schrieb als einer von wenigen Komponisten die Texte selber) vorwiegend bei Stoffen aus dem germanisch-nordischen Kulturkreis.
Dabei verpasste er ihnen einen eigenen, unverwechselbaren Dreh. Das gilt besonders für sein vierteiliges Mammutwerk «Der Ring des Nibelungen». Völkisches Gedankengut findet man in zwei Opern: «Lohengrin» und «Die Meistersinger von Nürnberg», in denen gegen «welschen Tand» polemisiert und «die heil’ge deutsche Kunst» beschworen wird.
Das wahre Problem der «Meistersinger» aber ist die Figur des Sixtus Beckmesser, die nichts anderes ist als die üble Karikatur eines Juden. Als solche zeigte ihn der jüdische Regisseur Barrie Kosky in der Bayreuther Inszenierung von 2017 in der Prügelszene am Ende des zweiten Akts, mit einer expliziten Anspielung auf das Nazi-Hetzblatt «Der Stürmer».
Denn Richard Wagner war ein Antisemit. In seinem Pamphlet «Das Judentum in der Musik» behauptete er, Juden könnten keine eigenständige Kunst schaffen. Und er raunte über ihren «Untergang». Kein Wunder, sehen manche eine direkte Linie von Wagner bis Auschwitz. Kein Wunder, können Wagners Werke in Israel kaum gespielt werden.
Wagners «notorischer Antisemitismus», so Urenkelin Katharina, macht ihn attraktiv für Faschisten. Es war nicht der einzige problematische Aspekt seiner Persönlichkeit. Richard Wagner war ein Egomane. Er war überzeugt von seinem Genie, liebte den Luxus und lebte über seine Verhältnisse. Wiederholt musste er vor seinen Gläubigern fliehen.
Das hinderte ihn nicht daran, selbst Bewunderer und Gönner schamlos zu hintergehen. Zu ihnen gehörte der in Zürich lebende Kaufmann Otto Wesendonck. Bei ihm erhielt Wagner nach dessen Teilnahme am Dresdner Aufstand 1849 «Asyl». In Zürich erlebte Wagner seine vielleicht produktivsten Jahre, aber er bandelte auch mit Wesendoncks Ehefrau Mathilde an.
1858 musste Wagner Zürich deshalb verlassen. Es folgten Jahre voller künstlerischer und finanzieller Misserfolge, eher er 1864 mit dem jungen Bayernkönig Ludwig II. (der mit den Schlössern) einen neuen Unterstützer fand. Doch er begann auch eine Affäre mit Cosima, der Tochter des Komponisten Franz Liszt und Ehefrau des Dirigenten Hans von Bülow.
Er zeugte mit ihr eine uneheliche Tochter. Für die bayerische Regierung, der Wagner mit seinen anmassenden (Geld-)Forderungen ein Dorn im Auge war, war dies ein willkommener Vorwand, um ihn aus München wegzuekeln. Ludwig tat dies schweren Herzens, doch er zahlte weiter und ermöglichte den Bau des Festspielhauses in Bayreuth.
Nach Richards Tod wurde Witwe Cosima (sie hatte ihn nach ihrer Scheidung in Luzern geheiratet, wo sie zwischenzeitlich lebten, und zwei weitere Kinder bekommen) zur «Gralshüterin». Sie führte die Festspiele zum künstlerischen und finanziellen Erfolg, doch sie war eine ähnlich rabiate Antisemitin wie ihr Mann, und das Unheil nahm seinen Lauf.
Bayreuth entwickelte sich zum Hochamt der Deutschtümelei. Frederic Spotts bezeichnet die Festspiele in seinem Buch als «Wolkenkuckucksheim eines durchgedrehten Nationalismus». Allerdings war das Bild nicht schwarzweiss. Jüdische Künstler waren unerwünscht und wurden dennoch engagiert, etwa der Dirigent Hermann Levi oder der Sänger Friedrich Schorr.
Das lag auch an Siegfried, dem einzigen Sohn von Richard und Cosima. Er war schwul und hatte Affären mit Männern, die ihn danach erpressten. Also musste er verheiratet werden, mit der jungen Engländerin Winifred Williams. Er zeugte mit ihr je zwei Söhne und Töchter, sicherte die Erbfolge und wandte sich dann wieder seinen eigentlichen Vorlieben zu.
Winifred fand derweil einen «Ersatzmann», und das war kein Geringerer als Adolf Hitler. Sie bewunderte ihn früh, und der spätere «Führer» liess es sich gefallen, denn er war ein glühender «Wagnerianer». Er kam regelmässig nach Bayreuth, die Wagners wurden für ihn zu einer Ersatzfamilie. Die Kinder von Siegfried und Winifred nannten ihn «Onkel Wolf».
Siegfried Wagner, von seinem Naturell her ein toleranter und weltoffener Mensch, verfolgte das zunehmend kritisch, doch 1930 starb er mit 61 Jahren an einem Herzinfarkt, nur wenige Monate nach Mutter Cosima. Weil die Söhne noch minderjährig waren, übernahm Winifred die Leitung der Festspiele, und das Unheil nahm ein weiteres Mal seinen Lauf.
Künstlerisch blühten die Bayreuther Festspiele dank staatlicher Unterstützung auf, doch moralisch sanken sie auf einen absoluten Tiefpunkt. Richard Wagner wurde zum Soundtrack des Nationalsozialismus, obwohl «die praktisch einzige Person in der Partei, die Wagners Opern wirklich mochte, Hitler selbst war», wie es in Frederic Spotts’ Buch heisst.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Festspiele diskreditiert. Winifred Wagner entkam dem Gefängnis wohl nur, weil sie jüdischen und homosexuellen Künstlern geholfen hatte (in Bayreuth waren die Dinge eben nie schwarzweiss). Aber sie blieb eine Hitler-Verehrerin. Im Umgang mit anderen Altnazis verwendete sie für ihn den Begriff USA – Unser Seliger Adolf.
Ihren Söhnen Wieland und Wolfgang (Katharinas Vater) aber gelang der Neustart, indem sie die Festspiele vom deutschnationalen Mief «säuberten». Sie nahmen es auch in Kauf, von den traditionellen Wagnerianern ausgebuht zu werden. Katharina Wagner führt diese Linie weiter, dieses Jahr etwa mit einer neuen «Parsifal»-Inszenierung mit AR-Technologie.
Zur Zukunft der Festspiele gibt es dennoch Fragezeichen. Als «Normalsterblicher» hatte man jahrzehntelang kaum eine Chance, ein Ticket zu ergattern. Bayreuth war notorisch überbucht. Dieses Jahr waren einige Vorstellungen nicht ausverkauft. In den deutschen Medien kursierten Begriffe wie «Kartenkrise» und «Ladenhüter».
Die Gründe dafür sind vielschichtig. So sind die Karten sehr teuer. Und vielleicht liegt es am Austragungsort. Richard Wagner wählte das eher abgelegene Bayreuth, damit nur wahrhaft «Gläubige» zu seinen Opern «pilgerten». In der heutigen Zeit ist das ein Nachteil, denn Bayreuth ist etwas polemisch formuliert ein fränkisches Provinzkaff.
Es gibt keine Luxushotels, keine Gourmet-Restaurants und auch keinen ICE-Halt, denn die Eisenbahnlinie von und nach Nürnberg ist bis heute nicht elektrifiziert. Für ein heutiges, verwöhntes Event-Publikum ist dies vielleicht zu wenig. Und das Festspielhaus mit seinen harten Holzsitzen im nicht klimatisierten Zuschauerraum ist eine «Zumutung».
Aber nirgends erlebt man Wagner so authentisch wie in dieser «Scheune» mit ihrer diffizilen wie unvergleichlichen Akustik. Es gab und gibt misslungene Produktionen, aber wenn alles passt, erlebt man Sternstunden, wie dieses Jahr während der «Tannhäuser»-Aufführung. Nach dem fulminanten Schlussapplaus war für mich klar: Ich werde wiederkommen, garantiert.
Mit dem Widerspruch zwischen Wagners Musik und seinen Abgründen, die ihn anfällig machen für Missbrauch durch Faschisten wie Prigoschin oder vielmehr seinem Neonazi-Kompagnon Dmitri Utkin, der die unselige Namenswahl traf, muss man leben. Keiner hat das Dilemma so perfekt benannt wie ein anderer Amerikaner, der jüdische Dirigent, Komponist und Charismatiker Leonard Bernstein: «Richard Wagner, ich hasse dich! Aber ich hasse dich auf Knien.»
„Mit dem Widerspruch zwischen Wagners Musik und seinen Abgründen, die ihn anfällig machen für Missbrauch durch Faschisten wie Prigoschin oder vielmehr seinem Neonazi-Kompagnon Dmitri Utkin, der die unselige Namenswahl traf, muss man leben“
Das Wort Missbrauch passt nicht, er war ein übler Kerl und Antisemit, man braucht ihn nicht zu missbrauchen, er hatte das Gedankengut derer, die in missbrauchen.
Da genügt eine teilweise geniale Musik nicht um, die Person mit diesem Satz als Missbrauchsopfer darzustellen.