Wir sollen aufpassen, sagt ein Sicherheitsmann mit geschultertem Gewehr. Er steht am Eingang eines Ortes am unteren Ende der Golanhöhen und weist uns den Weg. «Die Strasse ist noch nicht komplett geräumt von Raketenresten, fahrt also vorsichtig.»
Die Strasse 99 führt von der nordisraelischen Stadt Kirjat Schmona über Madschdal Schams, einen von syrischen Drusen bewohnten Ort direkt am Berg Hermon, hin auf die von Israel besetzten Golanhöhen: Bis vor wenigen Wochen war diese Strecke militärisches Sperrgebiet. Sie führt entlang der Grenze zum Libanon und bis hoch an die Grenze zu Syrien. Von hier aus verschoss die Terrormiliz Hisbollah die meisten ihrer Raketen und Drohnen.
In Kirjat Schmona heulten seit Beginn der Angriffe am 7. Oktober vor einem Jahr mehr als 500 Mal die Sirenen − so oft wie an keinem anderen israelischen Ort. In Madschdal Schams wurden im Sommer zwölf Kinder und Jugendliche durch eine Hisbollah-Rakete getötet. Die drusische Minderheit erlebte damit einen der verheerendsten Raketenangriffe in der Geschichte Israels.
Damals, im Sommer, wagten der Fotograf und ich uns nicht diese Route entlang, zu gefährlich schien sie uns. Jetzt ist die Strasse frei, der Himmel ist blau, die Szenerie wirkt wie ein Plot-Twist der Nahostgeschichte. Seit Ende November gilt ein Abkommen zur Waffenruhe mit der Hisbollah.
Die wurde durch israelische Angriffe geschwächt und kann nicht verhindern, dass Israels Armee etwa weiterhin im Südlibanon operiert. Israelische Soldaten sind aber auch auf der syrischen Seite der Golanhöhen im Einsatz – nach eigenen Angaben, um nach dem Sturz des Assad-Regimes sicherzustellen, dass sich keine Terroristen Israel nähern.
Die UN verurteilten das Vordringen der israelischen Armee. Völkerrechtlich ist die Lage klar: Die Golanhöhen sind illegal besetztes Gebiet. Was aber sagen die Menschen, die hier leben?
Am unteren Ende der Golanhöhen entspringt der Banias, einer der Quellflüsse des Jordan. Das Gebiet ist sumpfig und fruchtbar. Ein Naturparadies zwischen Sandsäcken und Betonpfeilern, die bei Raketenangriffen Schutz bieten. Zugvögel aus Europa überwintern hier, gleiten in Schwärmen am Horizont entlang. In der Ferne kann man Militärhubschrauber in Richtung Syrien fliegen sehen. «Seit ein paar Tagen kommen wieder Touristen», sagt einer der Ranger am Eingang zum Banias-Nationalpark.
Vor dem rauschenden Wasserfall steht eine Gruppe Männer um die 50, mit Funktionshosen und verschlammten Wanderschuhen. Die Männer bauen Kamerastative auf und sehen aus wie Kriegsfotografen. «Schon vor Monaten haben wir den Fotokurs gebucht, aber gestern erst entschieden, dass es sicher ist, zu kommen», sagt einer der Männer, Gideon Liberman. «Der Krieg ist für einige ein gutes Geschäft gewesen, auch in unserer politischen Führung», sagt der Hobby-Naturfotograf. Er bittet uns darum, zur Seite zu treten. Das Licht falle gerade so gut.
Unweit des Wasserfalls, zurück auf der Strasse 99, liegt in einer schattigen Kurve das Libanesische Restaurant. Das Restaurant heisst tatsächlich so und man würde den Besitzer gern fragen, wie sein Geschäft das vergangene Kriegsjahr überstanden hat. Aber die grünen Tore sind mit einer Eisenkette versperrt. Das Gelände wirkt verwaist. An der nächsten Kurve steht auf einem Schild «Golan». Jetzt wird es steil, der Kleinwagen fährt nur widerwillig die Serpentinen hoch.
Am Strassenrand Felsen und Wiesen, auf denen Kühe und Pferde weiden. Dazwischen die Ruine einer Kirche. Die Golanhöhen sind die Wiege von Judentum, Christentum und Islam, ausserdem Austragungsort historischer Konflikte. Nach 1900 liessen sich die ersten jüdischen Siedler hier nieder. Nach dem Sykes-Picot-Abkommen beschlossen England und Frankreich im Stillen die Neuaufteilung des Nahen Ostens.
Frankreich erhielt für sein syrisches Mandatsgebiet die Golanhöhen, diese wurden dafür vom britischen Mandatsgebiet Palästina abgetrennt. Nach der Staatsgründung Israels nutzte Syrien die steilen Höhen, um das tiefer liegende Israel anzugreifen. 1967 dann besetzte Israel die Golanhöhen, diskutierte im Anschluss darüber, das Gebiet zurückzugeben − unter der Bedingung, dass Syrien Israels Existenz anerkenne. 1974 einigten sich beide Seite auf ein Entflechtungsabkommen und das Ende der gegenseitigen Angriffe.
Er würde so gern das auf der Wiese galoppierende Pferd aus der Nähe fotografieren, sagt der Fotograf, der mich auf der Fahrt begleitet. Dann winkt er ab und zeigt auf ein verrostetes Warnschild und den Stacheldrahtzaun. «Hier liegen überall noch alte syrische Minen. Da fliegt immer mal wieder eine Kuh in die Luft.»
Eigentlich dürfte man sowieso nicht hier sein, zumindest nicht ohne einen Grenzübergang übertreten zu haben. Faktisch aber führt die Strasse ohne Unterbrechung vorbei an der Nimrodsburg aus der Zeit der Kreuzfahrer direkt nach Neve Ativ, ein jüdisch-israelischer Ort, der eher aussieht wie ein böhmisches Bergdorf als völkerrechtlich illegal besetztes Gebiet. Das Ortsschild ist gerahmt von zwei Abfahrtski, dahinter grüsst ein haushoher aufblasbarer Schneemann. Viele Häuser aus Holz, dazwischen kleine Hütten. Die Hotels schenken tschechisches Bier aus.
Neve Ativ liegt weit oben am Berg Hermon. Wenn es im Nahen Osten schneit, bleibt hier ein bisschen davon liegen. «Von hier aus kann man gleichzeitig in den Libanon und nach Syrien gucken», sagt Maayan Bendor, 40 Jahre alt und Mitarbeiterin in der Gemeindeverwaltung. Bendor trägt Leopardenpulli und Leggings und wirkt so gemütlich wie der Ort an sich. Nur zehnmal hätten die Sirenen in Neve Ativ geheult, der Ort sei militärisch unbedeutend, keine Armeebasis in der Nähe, und ausserdem schwer erreichbar. «Bei Alarm haben wir die Kinder in die Bunker unter die Erde geschickt. Vor allem nach dem Angriff auf Madschdal Schams hatten wir Angst, dass auch bei uns was einschlägt.»
Bendor ist in Neve Ativ geboren, ihr Vater war bei der Armee und wurde nach 1974 auf die Golanhöhen berufen. Was sagt sie zum Vordringen der israelischen Soldaten auf die syrische Seite der Golanhöhen? «Der Golan ist das Auge Israels, von hier aus kann man bei guter Sicht bis zum Mittelmeer sehen. Und der syrische Teil liegt noch ein Stück höher: Ich verstehe, dass die Armee das Gebiet in dieser unsicheren Lage nicht Syrien überlassen will», sagt sie. «Aber ehrlich gesagt: Ich finde das nicht gut. Wir sollten die syrischen Rebellen nicht direkt provozieren.»
Oberhalb von Neve Ativ beginnt ein Hochplateau. Heller Stein türmt sich auf zu Gipfeln, über denen Madschdal Schams wie ein Schloss thront. Von hier an gibt es keinen Zweifel mehr: Die Autos mögen israelische Kennzeichen tragen, der Baustil der Häuser aber − auf mehreren Etagen entlang der Felsen gebaut, mit weiten Terrassen und Panoramafenstern − wirkt wie aus einem anderen Land. Madschdal Schams ist syrisch, auch wenn die Schilder der Geschäfte auch in Hebräisch beschriftet sind. Die rund 11'400 Einwohner gehören der drusischen Minderheit an. Sie sind syrische Staatsbürger. Seit dem Bürgerkrieg in Syrien nehmen zwar die Anfragen nach der israelischen Staatsbürgerschaft zu − insgesamt aber galten die Menschen hier als wenig begeistert von Israel.
«Von den älteren Bewohnern haben hier einige Baschar Al-Assad unterstützt», sagt ein Mann, etwa 30 Jahre alt, in einem Elektrogeschäft. Seinen Namen will er nicht nennen. «Aber kaum war er gestürzt, haben sie ihre Meinung geändert.»
«Meine Eltern sind innerlich weiterhin überzeugte Syrer, die wollen auch, dass Madschdal Schams wieder syrisch ist», sagt die 18-jährige Salaf Maket, die in einem der Cafés im Ortskern arbeitet. «Aber ich bin froh, dass wir zu Israel gehören: Unsere Verwandten in Syrien haben nichts zu essen, und wir haben hier ein gutes Leben.»
«Du hast schon recht», entgegnet Linor Sabag, ihre Kollegin, ebenfalls 18. «Aber ich will trotzdem, dass Israel aufhört, Menschen in Gaza zu töten.» Die beiden Frauen antworten auf Englisch, ihr Hebräisch sei nicht gut. Wie israelische Medien vergangene Woche berichteten, wollen vereinzelte drusische Dörfer nun auf syrischer Seite von Israel annektiert werden.
Was sagen die beiden dazu? «Wir finden das nicht gut. Das ist Syrien», sagt Linor. «Finden wir das nicht gut?», fragt Salaf zurück. «Also ich persönlich denke, jeder hat ein Recht auf ein gutes Leben, ich mische mich da nicht ein.»
«In Madschdal haben alle ihre eigene Meinung», sagt Narwas Ziad, der uns auf der Strasse anspricht und anbietet, mit uns durch den Ort zu fahren. Ziad, Anfang 20, erzählt, dass er demnächst in Frankfurt studieren wird und sich seit Jahren vergeblich auf die israelische Staatsbürgerschaft bewirbt. Wir halten an dem Fussballfeld, auf dem die zwölf Kinder durch eine Hisbollah-Rakete getötet wurden. Die Eltern haben die Einschlagstelle als Mahnmal nahezu unverändert gelassen. Hinter geborstenen Zäunen liegen schwarz verbrannte Kinderfahrräder. Daneben Porträts der Opfer, höflich lächelnde Mädchen und Jungen.
Am Ortsende von Madschdal Schams beginnt der Grenzzaun. In den vergangenen Wochen konnten Pressefotografen sehen, wie Israels Armee die Tore öffnete und mit Panzern die sandigen Berge überquerte. An diesem Tag ist ausser ein paar Hubschraubern am Himmel keine Armee zu sehen. Die Häuser auf der anderen Seite des Zauns wirken verlassen − nur die leuchtend roten Wassertanks auf den Dächern deuten auf Bewohner hin. «Die Häuser dort gehören eigentlich auch zu Madschdal. Als es noch keine Handys gab, haben wir uns von hier aus Botschaften zugerufen», sagt Narwas Ziad. Er lacht, als würde er einen Witz erzählen.
Dicht am Grenzzaun zu Syrien stehen die teuersten Häuser von Madschdal, Villen mit glänzenden SUVs in der Einfahrt und Tennisplatz. «Wir arbeiten hier hart und können uns etwas leisten», sagt Ziad. Die Sonne verschwindet schnell hinter den Bergen zum Libanon, und das israelische Navigationssystem findet sich in den drusischen Ortschaften auf den Golanhöhen schwer zurecht.
Im Halbdunklen erreichen wir wieder die Kurve, in der das libanesische Restaurant liegt. Nun stehen die grünen Tore offen, im Gastraum brennt Licht. Wir klopfen an der Tür. Der Besitzer, Monier Marhaj, sitzt an einem der leeren Tische und winkt uns mit dem einladenden Lächeln eines Gastwirts zu sich. «Seit den Hisbollah-Angriffen habe ich geschlossen. Trotzdem komme ich seitdem jeden Tag her und sitze hier; sieben, acht Stunden.»
Marhaj, 67 Jahre alt, trägt Hemd und Segelschuhe und fragt die Besucher erst, ob sie etwas trinken wollen, ehe er zu erzählen beginnt. Er betreibe sein Restaurant seit zwei Jahrzehnten und stamme aus dem Dorf Ghadschar, nicht weit vom Restaurant entfernt. Ghadschar ist Teil der Scheba-Farmen, ein kleines Areal in diesem ohnehin kleinen Gebiet, auf das der getötete Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah wiederholt Anspruch erhoben und damit seine Angriffe auf Israel gerechtfertigt hat. «Meine Familie besitzt Land auf der anderen Seite der Grenze», sagt Marhaj. «Aus den Dokumenten wissen wir, dass dieses Land historisch nicht dem Libanon, sondern Syrien gehört.»
Der Konflikt um die Scheba-Farmen zeigt wie unter einem Brennglas, worum es im Streit um die Golanhöhen insgesamt geht: Wem gehört dieses Gebiet, das erst England und Frankreich unter sich aufgeteilt haben und das später Israel teilweise besetzt hat, über die Köpfe der hier lebenden Minderheiten hinweg? Kürzlich hat Netanjahu erklärt, er wolle die Einwohnerzahl auf den Golanhöhen verdoppeln. International sorgte diese Erklärung für Empörung. Dabei, das zeigt die Fahrt entlang der Strasse 99, haben sich viele nichtjüdische Bewohner des Gebiets arrangiert mit Israel und leben lieber unter israelische Kontrolle als etwa unter syrischer.
Die Bewohner von Ghadschar sind Alawiten, auch Restaurantbesitzer Monier Marhaj – wie der gestürzte syrische Präsident Baschar Al-Assad. Was denkt Marhaj über Israels Vorgehen, die Bodentruppen auf syrischer Seite? «Was hier passiert, ist ein Erdbeben. Ich finde, vor jedem Erdbeben muss man sich fürchten.»
Er lebe gern in Israel, der Staat habe ihn entschädigt für das fehlende Einkommen durch den Krieg, sagt Marhaj. Beim Aufbruch bedanken wir uns, wundern uns aber auch: Warum betreibt er, der syrische Alawit, ein libanesisches Restaurant? «Die meisten meiner Köche waren libanesische Christen, die im ersten Libanonkrieg Israel unterstützten und nach dem Abzug der israelischen Armee aus dem Libanon nach Israel geflohen sind.» Monier Marhaj führt uns nach draussen, schliesst das Restaurant ab. Morgen wird er wiederkommen, und darauf warten, bis irgendwann endlich wieder Gäste kommen.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.
Ich war schon im Libanon und in Syrien. Damals 2003, als noch so etwas wie Normalität herrschte und der Libanon touristisch besser bereist werden konnte. Mit dem Umsturz des Regimes in Syrien könnten beide Länder wieder zurück zu besseren Zeiten finden. Ich hoffe es für sie.