Nach dem Sturz des Assad-Regimes hat Israel diese Woche massiv Infrastruktur in Syrien zerstört. Waffenlager, Armeeeinrichtungen, Flughäfen, die Marine. Wie beurteilen Sie das Vorgehen Israels?
Andreas Krieg: Die Israelis argumentieren, dass nun die einmalige Möglichkeit besteht, Syrien militärisch fundamental zu schwächen. Was letztlich aber angegriffen wird, ist nicht das Assad-Regime, sondern das, was von Syrien noch existiert.
Können Sie nicht nachvollziehen, dass sich Israel präventiv absichern möchte?
Ich kann verstehen, dass Israel Chemiewaffen zerstörte, damit sie nicht in die Hände von syrischen Rebellen gelangen. Die Luftwaffe, die Marine und das, was von der Armee übrig ist, wären jedoch keine direkte Bedrohung für Israel gewesen. Durch die Zerstörung dieser Infrastruktur wird die Übergangsregierung Syriens punkto Aussenverteidigung extrem geschwächt. Das halte ich nicht für sinnvoll.
Weshalb?
Weil es momentan so aussieht, als würde nach dem Ende des Assad-Regimes ein sehr geordneter Übergang in eine neue soziopolitische Ordnung erfolgen. Deswegen ist es problematisch, dass Israel nun versucht, eine mögliche neue Regierung bereits jetzt zu schwächen. Abu Mohammed al-Julani, der Anführer der Rebellengruppe HTS, hat diese Woche mehrfach betont, keinen neuen Krieg mit Israel anfangen zu wollen. Mit seinem Vorgehen riskiert Benjamin Netanjahu, Syriens Übergangsregierung und auch das syrische Volk gegen sich aufzubringen. Das kann, auch was ein mögliches Friedensabkommen betrifft, nicht im Interesse Israels sein.
Nebst der zerstörten Infrastruktur hat die israelische Armee auch die Pufferzone zwischen den Golanhöhen und Syrien besetzt.
Ein erneuter völkerrechtswidriger Akt gegen einen souveränen Staat. Und das, nachdem Israel 1973 bereits die syrischen Golanhöhen besetzt hat. Im Kontext von Israels politischen Besetzungsnarrativen, etwa hinsichtlich des Westjordanlands, und dem Vorgehen der letzten 14 Monate, mit der völligen Zerstörung Gazas und dem Krieg gegen den Libanon, sieht es momentan so aus, als wolle Israel auch in Syrien Territorium annektieren. Das beunruhigt die Region insofern, als Israel, wenn es Territorium einnimmt, es meistens nicht zurückgibt.
Sie rechnen damit, dass Israel sich nicht mehr aus der Pufferzone zurückziehen wird?
Israel argumentiert, dass es nach Assads Sturz auf der Gegenseite niemanden mehr gebe, der das Abkommen rund um diese demilitarisierte Zone schütze. Ich hoffe sehr, dass sich Israel zurückzieht, wenn sich die Situation stabilisiert hat. Das eigentliche Problem ist, dass Israel derzeit auch den Hermon-Berg besetzt, eine strategisch sehr wichtige Position, vor allem in Bezug auf Radar-Technologie. Dass auf 2800 Metern Höhe irgendwelche syrischen Rebellen Israel angreifen könnten, so die Begründung, ist haltlos.
In den vergangenen Tagen las man immer wieder vom Machtvakuum, das nach Assads Sturz nun in Syrien herrscht. Hat Israel nicht begründete Ängste, dass islamistische oder sonstige Gruppierungen die Situation ausnutzen könnten und dadurch Gefahr droht?
Dieses Machtvakuum sehe ich nicht. Syrien befindet sich seit 2011, seit dem arabischen Frühling, in einer extrem volatilen Situation, in der sich Grenzen und Machtbereiche sehr schnell verschieben. Am Boden ist ein Mosaik von verschiedenen Akteuren aktiv. Darunter befinden sich sicher einige im islamistisch-dschihadistischen Spektrum, andere haben gänzlich gegenteilige Ansichten. Man kann diese Gruppen nicht über einen Kamm scheren.
Also droht Israel keine Gefahr?
Bislang hat keine Rebellengruppe Israel aktiv gedroht. Es handelt sich um eine israelische Angst, die momentan nicht begründet ist. Israel hat, wie nun bei den Golanhöhen, immer wieder versucht, präventiv zu agieren. Und damit meist grösseren Schaden angerichtet, als wenn es nichts getan hätte. Zumal es für Abu Mohammed al-Julani, den Anführer der Rebellengruppe HTS, viel wichtiger ist, die innenpolitische Macht zu konsolidieren, als sich mit Israel zu befassen.
Was bedeutet Assads Sturz für Syriens Verbündete?
Iran ist der ganz grosse Verlierer. Syrien war das logistische Zentrum der «Achse des Widerstandes», nun kann Iran nicht mehr über Syrien Material in den Libanon liefern, was die Hisbollah empfindlich schwächen wird.
Was ist mit Russland?
Natürlich haben die Russen mit Syrien einen wichtigen Verbündeten im Nahen Osten verloren. Das haben sie aber in Kauf genommen, weil ihnen die Lage in der Ukraine viel wichtiger ist. Allerdings war es ohnehin nie eine Liebeshochzeit zwischen Russland und dem Assad-Regime. Syrien hatte für Russland primär geopolitischen Wert. Es wird sich nun zeigen, inwiefern die Rebellengruppen willig sind, mit Putin in Verhandlungen zu treten, damit er seine Militärbasen am Mittelmeer behalten kann.
Sie haben gesagt, Iran sei der grosse Verlierer. Schaut man sich die letzten Monate an, ist Israel dann der grosse Gewinner?
Das würde ich nicht sagen. Die Hisbollah ist geschwächt, aber nicht zerstört. Die Waffenruhe an der libanesischen Grenze ist extrem fragil. Langfristig hängt Israels Lage immer davon ab, was in den palästinensischen Gebieten geschieht. Der Umgang mit der arabischen Bevölkerung kann andere arabische Gruppierungen in der Region zu Aktionen gegen Israel motivieren. Diesbezüglich hat Israel in den vergangenen 14 Monaten keinen Fortschritt erzielt. Der Hass auf Israel in der Region riesig. Von den Islamisten über die moderaten bis zu den säkularen Kräften hat sich Israel keine Freunde gemacht. Unter dem Gaza-Krieg hat selbst die Beziehung zu Partnern wie der Türkei und den Golf-Staaten gelitten. Militärisch wurden einige Erfolge erzielt, politstrategisch hat Israel nichts gewonnen und ist zunehmend isoliert.
Bis März soll die Übergangsregierung in Syrien im Amt sein. Was kommt danach? Können Rebellen regieren?
Die Situation, wie wir sie in Syrien bis zum Sturz des Assad-Regimes hatten, dauerte 14 Jahre. Die Rebellen konnten sich lange vorbereiten und haben aus Fehlern, die Rebellengruppen in anderen Ländern begingen, gelernt. Gleichzeitig ist Syrien kriegsmüde und am Boden. Die Chancen, jetzt einen politischen Konsens zu finden, stehen nicht schlecht. Es müssen aber Schwierigkeiten überwunden werden.
Die wären?
Ein neues Syrien wird nur existieren können, wenn alle Minderheiten gleichberechtigt und gleich vertreten sind. Auf lokaler Ebene, etwa in Aleppo, haben die Rebellen gezeigt, dass sie gestalten können. Dort hat die Rebellengruppe HTS auch Macht abgeben können. Dies wird der HTS auf nationaler Ebene ebenso tun müssen. Er besteht nur aus rund 15'000 Mann, die zum grössten Teil keine Erfahrung mit dem Regieren haben, das reicht nicht, um ein ganzes Land zu verwalten. Er muss mit anderen Akteuren an den Tisch sitzen und es ist auch richtig, dass er die Staatsbeamten dazu auffordert, wieder zurück an die Arbeit zu gehen.
Das war zum Beispiel 2003 im Irak anders.
Dort kamen die Amerikaner und die Briten nach Bagdad und schmissen jeden, der jemals in der Baath-Partei war, sofort raus. Es ist sinnvoll, nun in Syrien so viel vom Staatsapparat zu retten wie möglich.
Werden wir in Syrien je von einem demokratischen Staat sprechen?
Demokratie ist natürlich ein grosses Wort. Zunächst geht es um die Inklusion aller Minderheiten. Das nächste Ziel müsste sein, dass Wahlen stattfinden, weil sich die Menschen in Syrien irgendwann fragen werden, was mit ihrer Stimme ist. Eine Demokratie im kompletten Sinne schiesst momentan vielleicht über das Ziel hinaus. Eine Form von Toleranz, welche die zivilgesellschaftlichen und individuellen Freiheiten der Menschen garantiert, müsste Priorität geniessen. Ebenfalls wichtig: Minderheiten wie die Kurden im Osten sollten Autonomie haben. Mit Gewalt und Unterdrückung wird auch der HTS nicht weit kommen. Ob es künftig eine syrische Gesellschaft gibt, die unter einem Namen und einer Flagge agiert, wird sich zeigen.
Welche Aufgaben kann der Westen in einem neuen Syrien übernehmen?
Kurz- und mittelfristig sehe ich eine Annäherung des Westens zu Syrien als realistisch an. Eine langfristige Strategie existiert hingegen nicht, obwohl man sich 14 Jahre darauf vorbereiten konnte. Wichtig ist sicher, dass die syrische Wirtschaft wieder angekurbelt werden kann. Das setzt aber voraus, dass der Westen entsprechende Sanktionen aufhebt. Sollte es wirtschaftlich nicht aufwärtsgehen, wird es bei den Syrern zu einer allgemeinen Unzufriedenheit kommen, die dazu führen kann, dass es einen neuen Aufstand gibt. So wie es in der Vergangenheit in Ägypten oder Libyen zu beobachten war.
Führt der Sturz des Assad-Regimes in der ganzen Region zu neuen geopolitischen Realitäten?
Dass das Assad-Regime trotz dieser brutalen Repression und der Unterstützung durch andere konterrevolutionäre Kräfte zusammengebrochen ist, hat sicher viele autoritäre Herrscher in der Region schockiert. In Ägypten gibt es zwar keine Rebellengruppen so wie in Syrien. Sollte die Unzufriedenheit in der Bevölkerung jedoch zu gross werden, könnte Präsident al-Sisi gestürzt werden. In Jordanien ist das Königshaus bezüglich Beliebtheit in der Bevölkerung an einem absoluten Tiefpunkt angelangt. Die Situation ist angespannt, einen Zustand wie beim arabischen Frühling, als ein Regime nach dem anderen gefallen ist, haben wir aber dennoch nicht.
Ein Diktator kann sich immer nur durch die Unterstützung zehntausender gleichgesinnter Profiteure an der Macht halten (gilt natürlich auch für die Russen).
Assads 6 (!) Geheimdiensten gehörten - bzw. gehören - schätzungsweise 90‘000 Personen an.
Wird sich dieser kriminelle Repressions- und Folterapparat nun scheinheilig unter die Zivilgesellschaft mischen, oder bleiben diese Personen nun in den entsprechenden Ämtern an der Macht?
Was genau wollt ihr Israel denn nun vorwerfen?
Und Israel muss endlich mal ihre „radikalen Siedler“ in den Griff kriegen.