Ein paar Stunden nach dem Ereignis, das sich für immer in das Gedächtnis dieser Stadt einbrennen wird, hört man einen Hubschrauber über der Magdeburger Innenstadt kreisen.
Es ist 23 Uhr, vier Stunden, nachdem ein mutmasslicher Attentäter über den Magdeburger Weihnachtsmarkt gerast ist. Man hört auch noch ab und an Sirenen. Ansonsten ist es sehr still. Passanten sind kaum unterwegs. Dafür überall Rettungswagen, Polizisten mit Maschinengewehren. Überall Blaulicht. Überall aber auch: Weihnachtslichter. Die ganze Stadt ist voll davon, sie hängen an Wohnhäusern, Einkaufszentren, Laternen. Es gibt sogar ganze Lichtinstallationen – eine Strassenbahn, ein Flugzeug, und das Wappen der Stadt, eine Magd auf einer Burg. Alles extra aufgebaut, für das Weihnachtsfest.
Die «Lichterwelt Magdeburg» ist ein Fest, das der Stadt etwas bedeutet. Eine Million LEDs, jedes Jahr, die umfangreichste Weihnachtsbeleuchtung Mitteldeutschlands. Man ist stolz darauf.
Jetzt flattert überall unter den Lichtern Absperrband. Der Bereich um den Weihnachtsmarkt – viele Strassen, Kreuzungen – wurde von der Polizei weiträumig abgeriegelt. Denn das alles ist jetzt, so sagt es ein Polizist, ein Tatort.
Am Freitagabend raste gegen 19 Uhr ein Mann mit seinem Auto in den Magdeburger Weihnachtsmarkt. Er verletzte mindestens 60 Menschen, 15 von ihnen schwerst. Tötete mindestens zwei, darunter ein Kleinkind. Er wurde danach von der Polizei festgenommen, befindet sich in Gewahrsam. Es soll sich um einen Mann gehandelt haben, der aus Saudi-Arabien stammt, seit 2006 in Deutschland lebt und hier als Arzt gearbeitet hat. Er soll 50 Jahre alt sein. Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sagte, man gehe von einem Einzeltäter aus.
Welche Erkenntnisse sich nun auch in den nächsten Tagen herauskristallisieren werden, eines ist jetzt schon klar: Was der Täter angerichtet hat, wird bleiben.
Der Magdeburger Weihnachtsmarkt ist beliebt. Bei Alt, bei Jung, bei den Zugezogenen, Wiedergekehrten und Dagebliebenen. Bei allen. Ein selbstverständlicher Treffpunkt, immer gut besucht, mit Riesenrad, Mittelaltermarkt, mit Schmalzkuchen und dem immer gleichen singenden Elch über einem Glühweinstand. Am Wochenende drängt man sich dicht an dicht aneinander vorbei und muss aufpassen, seinen Glühwein nicht auf den anderen zu verschütten. Genau hier, durch eine der wenigen schmalen Gassen, ist der Täter hindurchgerast.
Er hat die Stadt mitten ins Herz getroffen. Es wirkt an diesem Abend gebrochen.
Reiner Haseloff, der Ministerpräsident, sagt am Freitagabend: «Es ist gerade im Zusammenhang mit dem, was ein Weihnachtsmarkt bringen soll, wirklich eine der schlimmsten Dinge, die man sich nur vorstellen kann.»
Ein junger Mann, der dabei war, steht jetzt, ein paar Stunden danach, neben einer Ampel, ein paar hundert Meter hinter dem Absperrband. Er ist 24 Jahre alt, Gleisbauer, kommt aus der Gegend, wohnt seit einigen Jahren in Magdeburg. Er will, wie alle, die hier zu Wort kommen, seinen Namen in keinem Artikel lesen, um nicht für immer mit dieser Tat verbunden zu werden.
Er ist sichtlich aufgelöst, geschockt. Sagt immer wieder, er könne es nicht verstehen. Dass das wirklich passiert sei. «Wir wollten einfach nur Glühwein trinken.»
Der Mann erzählt, er sei mit Freunden auf dem Weihnachtsmarkt gewesen. Sie hätten einfach da gestanden, ihren Glühwein getrunken, an einem Holztisch. «Und auf einmal kam das Auto vorbeigepfiffen», sagt er. «Zack.» Er sei zurückgesprungen. Neben ihm seien viele Menschen umgekippt. Er habe überhaupt nicht verstanden, was passiert sei. «Und dann guckst du auf die Seite und alle liegen da.»
Er habe sehr schlimme Dinge gesehen, verletzte Menschen. Er sei mit fünf Freunden unterwegs gewesen, einer von ihnen sei verletzt worden. Er wisse nicht, wie es ihm gehe. Die Polizei habe ihn und die anderen gebeten zu gehen, da es ihnen körperlich gut ging.
«Das waren alles unschuldige Menschen», sagt er. Dies sei das Schlimmste, was ihm jemals passiert sei.
Ein anderer junger Mann, 26 Jahre alt, erzählt am Telefon, wie er das Attentat am Rande mitbekommen hat: Er sei mit dem Auto unterwegs gewesen, in Richtung Innenstadt. Auf der Brücke über der Elbe habe er bereits überall das Blaulicht gesehen. Was ist da los? Das habe er sich gefragt. Dann, an einer Ecke, habe er zwei verletzte Frauen gesehen. Als er angehalten habe, hätten sie ihm erzählt, was passiert ist. Die eine Frau habe stark am Kopf geblutet, die andere über Schmerzen im Brustkorb geklagt. Er habe sie ins Krankenhaus gefahren.
«Sie sagten, ihnen hätte von den Einsatzkräften nicht mehr geholfen werden können, weil andere noch dringender behandelt werden mussten.» Die eine Frau habe noch erzählt, sie habe nur gesehen, wie alle umgefallen seien. Dann sei sie ohnmächtig geworden und als sie wieder aufwachte, habe ein Tisch auf ihr gelegen.
Auch spät in der Nacht werden noch immer einzelne Verletzte abtransportiert. Eine Frau auf einer Liege, ein junger Mann im Rollstuhl. Am Strassenrand steht eine Frau mit einem Feuerwehrmann, weint.
Passanten werden nicht mehr durch den Bereich gelassen. Auch die Taschen von Journalistinnen kontrolliert. Man ist vorsichtig.
An einer Ecke hat die Freiwillige Feuerwehr für die Einsatzkräfte ein Zelt aufgebaut, damit auch sie gestärkt werden. Eine der Helferinnen erzählt: 300 Kräfte hätten sie schon versorgt, mit Kaffee, Tee, Erbsensuppe. Viele seien geschockt gewesen, viele auch noch sehr jung. Einen Bekannten haben sie begrüsst und gefragt, wie es ihm gehe. Er habe gesagt, er könne jetzt nicht reden.
Sie selbst habe noch überhaupt keine Zeit gehabt, alle Anrufe zu beantworten. Von überall würden sich Freunde und Bekannte melden und fragen, ob sie in Sicherheit sei. So, wie sie das selbst auch bei ihren Bekannten und Freunden gemacht habe, wenige Stunden zuvor. «Unvorstellbar, dass so etwas passiert.»
Während sie das sagt, gehen die Fragen darüber weiter, was die Hintergründe des Täters gewesen sein mögen, wie das geschehen konnte. Gleichzeitig mobilisiert die Junge Alternative Sachsen-Anhalt für eine Mahnwache am nächsten Tag.
Unter Tränen kündigt die Oberbürgermeisterin der Stadt, Simone Borris, für Samstagabend eine Gedenkfeier für die Opfer im Magdeburger Dom an. Man wolle Betroffenen, Angehörigen und allen anderen Bürgern eine Möglichkeit zum Trauern geben. «Wir werden eine lange Zeit zum Trauern brauchen», sagt sie sichtlich fassungslos.
Und um Mitternacht in Magdeburg, über dem Flatterband, leuchten die Weihnachtslichter. Sie leuchten einfach so weiter.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.
Das sind Anschläge, die niemandem etwas bringen. Nur Schmerz, Leid, Misstrauen und Hass.
Traurig. Enorm traurig.