Man könnte meinen, Corona habe Hollywood getötet. Habe jene Chiffre, die für grosse Studios, für grosse Filme auf grosse Leinwände in grossen Kinos steht, ausgelöscht. Habe die Traumfabrik samt ihren Stars vor und hinter der Kamera in andere Kanäle überführt, in die der Streaming-Giganten, die ihrerseits zu den Pandemiegewinnern gehören. Der neue James Bond etwa, der seit Monaten als die letzte Rettung pompöser Kinounterhaltung gehandelt wird, ist inzwischen so oft verschoben worden, dass vieles, was er zeigt (und wofür er Product Placement macht) bereits wieder reine Nostalgie ist.
Trotzdem kann zum Beispiel Netflix, das ohne Unterlass neue Serien und Filme in unsere Wohnzimmerkinos speit, gar nicht genug davon kriegen, vor dem alten Hollywood auf die Knie zu fallen.
Wir hatten das schon vor zwei Jahren bei «Roma» von Alfonso Cuarón. Resultat: Zehnfach für einen Oscar nominiert, in drei grossen Kategorien gewonnen. «Roma» spielte nicht in den 40er- oder 50er-Jahren, sondern «bloss» zu Beginn der 70er, doch «Roma», der nichts mit Rom zu tun hatte, wirkte wie Federico Fellinis alte römische Schwarzweiss-Filme, was Cuarón auch offen zugab.
«Roma» war bei aller cineastischen Heldenverehrung nicht in direkter Anlehnung an alte Filme entstanden, es war weder Remake noch Aneignung, Vorgeschichte oder Neuschreibung eines alten Stoffs. Denn dies liebt Netflix wie nichts anderes: Der entsetzlich schlechte, aber ambitioniert schwarzweiss gedrehte Film «Curtiz» (2018, Regie Tamas Yvan Topolanszky) erzählt vom Kampf um das Ende der legendären, aber beim Wiedersehen enttäuschend albernen Kriegskomödie «Casblanca» (1942) mit Ingrid Bergman und Humphrey Bogart. Ryan Murphy macht aus dem ziemlich langweiligen Psychiatrie-Klassiker «One Flew Over the Cuckoo's Nest» (1975) eine knallbunte Horror-Serie über die Vorgeschichte der sadistischen Oberschwester «Ratched».
Das alte Hollywood an sich, die Studios, ihre Bosse und deren Casting-Couch-Affären, verarbeitet der gleiche Murphy zur Serie «Hollywood» und fragt sich dabei, was gewesen wäre, wenn sich nicht die Frauen, sondern die Männer von damals für ihre Rollen hätten prostituieren müssen. Ben Wheatley nimmt Hitchcocks Cornwall-Mysterium «Rebecca» (1940) um eine schöne Tote und macht daraus ... «Rebecca», das womöglich soapigste Remake aller bisherigen Zeiten.
Bereits 2017 unternahm Netflix mit «The Other Side of the Wind» den tollkühnen Versuch, den letzten und unvollendeten Film von Orson Welles fertig zu stellen. Orson Welles enger Freund Peter Bogdanovich überwachte zusammen mit Frank Marshall den Zusammenschnitt von insgesamt 1000 Filmrollen. Die Handlung: Eine Regie-Legende schafft es nicht mehr, vor ihrem Tod jenen Film zu vollenden, der ihr Comeback sein sollte.
Für diese Award-Season hat Netflix neben «Ratched» nun vor allem «Mank» parat. «Mank» ist gross: Es ist David Finchers Auseinandersetzung mit seinem Vater Jack, dessen Gott Orson Welles und dem Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz (Mank, 1897–1953), der Welles zu seinem Hit «Citizen Kane» (1941) verhalf.
Nun gilt «Citizen Kane», die Saga eines Trump ähnlichen, grössenwahnsinnigen Medienmoguls, dessen Familie mit Öl zu Geld gekommen ist, und dessen Fetischobjekt auch im Moment seines Todes sein Kinderschlitten namens Rosebud bleibt, unter vielen als sowas wie der wichtigste Film der Filmgeschichte. Jedenfalls wurde dies David Fincher so beigebracht.
Für Fincher ist das so geblieben. Jack, ein Journalist und Essayist, der 2003 starb, schrieb ein einziges Drehbuch. Das David jetzt als «Mank» verfilmte.
«Citizen Kane» ist der Film über den amerikanischen Traum: Von einem, der aufsteigt und aufsteigt, dessen Anwesen ein immer groteskerer Property-Porn wird und der eine völlig unbegabte Frau zu einer grossen Opernsängerin machen will, indem er ihr eine eigene Oper baut und alle seine Zeitungen behaupten lässt, sie sei ein Superstar. Und es ist ein Film über einen immer einsamer werdenden Manipulator, der der Welt ihre Leichtgläubigkeit vorführt, indem er sie immerzu verführt. Citizen Kane steht damit nicht nur für den einflussreichen Unternehmer, für die Medien, die Wirtschaft oder auch die Politik, sondern auch für das Kino schlechthin.
Revolutionär war damals die Anwendung der sogenannten «Deep Focus Cinematography», also der grösstmöglichen Tiefenschärfe, die alle Ebenen des Films, egal wie weit sie von der Kamera entfern waren, gleich scharf und klar hervorhob. Zusammen mit dem opulenten Dekor von «Citizen Kane» ergibt dies noch immer ein fantastisches, die Sehlust vollkommen befriedigendes Kinoerlebnis.
Finchers Kameramann Erik Messerschmidt hat sich dem ganz unterworfen und epische schwarz-weisse Tableaus entworfen, in denen man schwelgen will. Und wie es bei David Fincher, einem der besten Regisseure der Gegenwart nicht anders zu erwarten ist, gibt sein Ensemble einzigartige Höchstleistungen: Gary Oldman als Mank, der sein Drehbuch mehr oder weniger besoffen vom Bett aus schreibt und dazwischen im Schloss des Medienmoguls William Randolph Hearst diniert, um wie ein Vampir (also wie Oldman 1992 in «Dracula») Inspiration für seine Filmfigur abzuzapfen, ist hinreissend. Und Amanda Seyfried, die Hearsts Geliebte, die Schauspielerin Marion Davies (Hearst baute ihr ein eigenes Filmstudio) verkörpert, gilt bereits vor den Nominierungen als Favoritin für den Nebendarstellerinnen-Oscar.
Und so sind wir dabei, wie in einer Zeit lang vor der unseren ein Mann in seinen Vierzigern einem Wunderkind Mitte zwanzig beim Schreiben des womöglich noch immer grössten Werks der Filmgeschichte hilft. Und wie Mann und Wunderkind dank dieses Drehbuchs und seiner Umsetzung einen Oscar gewinnen.
Die für Netflix tätigen Regisseure, Drehbuchautoren und Kreateure (im Falle unserer Beispiele tatsächlich alles Männer) werden offensichtlich aufgefressen von einer Sehnsucht nach einer patriarchalen Genealogie. Nach einer Ahnenreihe, die zurückreicht ins vordigitale Zeitalter und die Gegenwart auf Netflix mit der Vergangenheit grosser Studios wie MGM, Paramount, Warner und 20th Century Fox verbindet.
Bezeichnend ist, dass Netflix im Beharren auf seinen Nachwuchsstatus nicht einfach alte Hollywoodfilme einkauft und zeigt, sondern dass es die disparate Hinterlassenschaft eines Orson Welles aufkauft und versucht, diesen selbst zu vollenden. Auch wenn Scheitern wahrscheinlicher als Erfolg ist.
«Mank», das schönste, makelloseste unserer Beispiele, könnte bloss ein Auskennerfilm für Hollywoodjunkies sein. Zum Glück ist er das nicht. Zum Glück ist er ein Film, nach dem man sich schlafen legt und am nächsten Morgen noch immer mit dem Gefühl erwacht, etwas wirklich Wundervolles gesehen zu haben.
Die Golden Globes sollen am 28. Februar verliehen werden. Amy Poehler und Tina Fey würden dann aus Los Angeles und New York ohne Publikum moderieren. Gewinnerinnen, Gewinner und zusätzliche Gäste sollen zugeschaltet werden. Am 15. März werden die Nominierungen für die Oscars 2021 verkündet. Die Verleihung findet vermutlich am 25. April statt.