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Filmfestival Locarno

So wurde «Pulp Fiction»-Produzentin Stacey Sher zur Auskunft für Covid

Locarno77, Piazza Grande, Stacey Sher, Raimondo Rezzonico Award 2024, 08.08.2024
Stacey Sher lässt sich vor einer Vorstellung von «Erin Brockovich» auf der Piazza Grande feiern.Bild: Locarno Film Festival/Mattia Martegiani
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So wurde «Pulp Fiction»-Produzentin Stacey Sher zur Telefonauskunft für Covid

Diese Frau hat seit Jahrzehnten ein untrügliches Gespür für Erfolgsfilme. Einer davon wurde gar unheimliche Realität.
11.08.2024, 05:1431.03.2025, 16:34
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Als vor gefühlten hundert Jahren Corona losging, schaute die ganze Welt EINEN Film: «Contagion» (2011) von Steven Soderbergh. Der Seuchenfilm schlechthin. Corona schien darin ebenso prophetisch wie korrekt vorweggenommen, Fledermäuse waren Virenträger, Menschen erstickten, Gwyneth Paltrow war Patient Zero, Kate Winslet die wackere Ärztin, Jude Law der Impfskeptiker, der mit pflanzlichen Präparaten ins Feld zog.

Kate Winslet drehte Clips, wie man sich während der Pandemie zu verhalten habe, und das Handy von Produzentin Stacey Sher stand nicht mehr still, sie wurde zur Auskunftszentrale, zur Telefonvermittlung in Sachen Pandemie: «Schliesslich hatte ich die Nummern all der Leute von damals noch», sagt sie und meint damit nicht die Stars, sondern einen grossen Stab an Wissenschaftlern, die sie und Soderbergh für den Film zu Rate gezogen hatten.

Vieles, was Amerika 2020 an Frühwissen über Corona erfuhr, lief über die Drehscheibe von «Contagion», die erste Welle an Verhaltensregeln wurde mithilfe der Fachkräfte, die am Film mitgewirkt hatten, entwickelt, erzählt uns Sher.

«Nothing spreads like fear»

Der Kontrast zu damals könnte nicht grösser sein, die schiere Angst, die damals umging, das Gefühl, dass man in einen horrorfilmartigen Nebel der Bedrohung geraten könnte, sobald man das Haus verliess, das Misstrauen, die Masken, die Spritzen, das Nichtwissen, das «Bitte bleiben Sie zuhause», die abgesperrten Spielplätze und Seepromenaden, die gelähmte Welt. «Nothing spreads like fear» war das Motto des Films.

Jetzt, am 77. Filmfestival von Locarno, wo Stacey Sher für ihre Arbeit als Produzentin geehrt wird, knallt die Sonne vom Himmel, das erste Festivalwochende hat die besten Wetterbedingungen seit Jahren, tagsüber flüchten sich alle ins Kino, weil es draussen mit 34 Grad zu heiss ist, abends bleibt die Piazza regenfrei und sternenklar und ist das grösste und schönste Openairkino der Welt, und Stacey Sher ist komplett sentimental.

Locarno77, Stacey Sher, Raimondo Rezzonico Award 2024, 07.08.2024.
Stacey Sher neben einer Palme in Locarno.Bild: Locarno Film Festival / Massimo Piccoli

Erstens, weil Produzentinnen und Produzenten immer hinter allen verschwinden müssen, hinter der Regie, hinter den Stars, zweitens, weil sie die kleinen Filmfestival-Marzipan- und Gebäck-Leoparden in der Konditorei an der Piazza Sant'Antonio, wo wir sie treffen, zum Schreien süss findet und sich an selige Spiele mit ihren Kindern und Gingerbread-Guetsli erinnert fühlt. «Ihr trefft mich im Moment der allerschlimmsten Erschöpfung», sagt sie, ihr Jetlag sei enorm.

Aus Hitlers Regisseurin wurde eine Seuche

Als wir auf «Contagion» zu sprechen kommen, erzählt sie eine wundersame Geschichte: «Ursprünglich wollte Steven Soderbergh gar keinen Seuchenfilm drehen. Wir arbeiteten an einem Projekt über Leni Riefenstahl, Hitlers Lieblingsregisseurin, die viel für ihn filmte. Doch eines Nachts konnte Steven nicht schlafen, weil er sich fragte, wer sich denn überhaupt einen Film über Leni Riefenstahl anschauen möchte. Und es ist einfach so: Wir können es uns nicht leisten, Filme zu machen, die sich niemand anschaut. So kamen wir auf ‹Contagion›.» Und aus Leni Riefenstahl, die einst unweit von Locarno am Wasserfall La Froda im Bavonatal eine Sequenz ihres Films «Das blaue Licht» gedreht hatte, wurde eine Seuche. Ein schönes Sinnbild.

Wenn Stacey Sher sagt, sie habe mit einem Regisseur an einem Film «gearbeitet», so ist das durchaus wörtlich zu nehmen. Als Quentin Tarantino Anfang der 90er-Jahre das Drehbuch zu «Pulp Fiction» schrieb, lebte er in Amsterdam. Jeden Tag stellte er sich in eine Telefonkabine, rief Stacey Sher an, las ihr vor, was er wieder Neues geschrieben hatte, und liess sich beraten. Als Samuel L. Jackson sein erstes Vorsprechen für «Pulp Fiction» komplett versemmelte, war sie es, die darauf bestand, ihm eine zweite Chance zu geben, weil sie eine ganz exakte Vorstellung davon hatte, wie er im Film funktionieren würde. Und als Steven Soderbergh «Erin Brockovich» drehte, den Film, in dem Julia Roberts für sauberes Wasser und kleine Leute kämpft, half sie ebenfalls bei den wissenschaftlichen Recherchen.

Film Still from Erin Brokovich FAMOUS is the trading name of Famous Pictures and Features Ltd. Registered Office 13 Harwood Road, London SW6 4QP Registered in England No 3373146 Copyright: xx 04500228
Hach, wer wünscht sich nicht, Julia Roberts als Erin Brockovich würde zum Rechten schauen?Bild: www.imago-images.de

Wie ist es eigentlich, wenn man weiss, dass Millionen von Menschen Filme wie «Pulp Fiction», «Erin Brockovich» oder «Contagion» gesehen haben? «Schockierend», sagt sie. Und noch schockierender an einem Ort wie Locarno, wo sie für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wird, obwohl sie mit 61 Jahren noch mitten in der Arbeit steckt. «Ich habe mal Neil Young getroffen», sagt sie, «und er meinte: ‹Steckt mich wieder in den Ofen, ich bin noch nicht fertig gebacken.› So fühle ich mich gerade.»

Was genau ist eigentlich ihr Job? «Alles.» Geld zu suchen ist dabei nur das eine. «Jeden Tag bist du Sisyphus und rollst den verdammten Stein wieder den Berg hinauf, bis ein Film fertig ist.» In einem früheren Interview verglich sie Filmemachen mit einer Geburt: «Wenn man sich nur an den Schmerz erinnern würde, man würde es kein zweites Mal machen.»

PULP FICTION, John Travolta, Uma Thurman, 1994. Miramax Films/Courtesy Everett Collection Miramax/Courtesy Everett Collection ACHTUNG AUFNAHMEDATUM GESCHƒTZT PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: ...
«Pulp Fiction» – Meilenstein der Filmgeschichte und fertig. Mit John Travolta und Uma Thurman. Bild: www.imago-images.de

Also, was ist ihr Job? Den sie auch ihren eigenen Eltern und Kindern immer wieder erklären muss? Alles zusammenzuhalten, einer kollektiven Idee zu dienen, Teams zusammenzustellen, einem Freund zu helfen, Mutter zu spielen und dafür zu sorgen, dass es allen gut geht, Material zu finden, ein gutes Drehbuch zu erkennen.

Mit 14 war «A Clockwork Orange» ihr Lieblingsfilm

«Ich musste lernen, Budgets zu verstehen, Drehpläne zu erstellen, Schauspieler, die eigentlich gar keine Zeit hatten, dazu zu bringen, dass sie Zeit fanden. Ich weiss, wie lange die Kostümabteilung braucht, um nach einem Stunt dreckige Kleider wieder zu waschen und zu trocknen und wie lange es dauert, bis sie ein zusätzliches Paar Hosen genäht haben. Ich weiss, wie Schnitt funktioniert, wie Musik und Soundmixing geht, und Marketing, Vertrieb und Medienarbeit. All das.» Sie war nie die einzige Produzentin bei ihren Filmen, aber diejenige, die am engsten mit den Kreativen zusammenarbeitete.

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«Gattaca» – oder der Film, in dem Uma Thurman und Ethan Hawke vor allem schön waren (und sich ineinander verliebten und gelegentlich die begabte Tochter Maya Hawke zeugten).Bild: www.imago-images.de

Ihr erster Berufsplan war jedoch nicht Film, auch wenn sie als Teenie ein Film-Geek war, sie schaute alles, was das Antennen-Fernsehen hergab, und sie schaute vieles, wofür sie eigentlich zu jung war. Als sie 14 war, lief «A Clockwork Orange» von Stanley Kubrick auf einem HBO-Vorgänger-Sender, sie war begeistert, schaute sich jede mögliche Wiederholung an, gut zwanzig Mal dürfte sie den Schocker damals gesehen haben.

«Reality Bites» und Clooney

Trotzdem wollte sie Sportreporterin werden. Ein Wunsch, der nach einem Praktikum in sich zusammenbrach. Danach arbeitete sie für einen Musikvideo-Produzenten. Und als eine Metal-Band, die gerade ihr Video abgeschlossen hatte, einen Film drehen wollte, wurde sie als Produzentin angeheuert. Der Film mit dem Arbeitstitel «Adventures of a Babysitter» kam allerdings nie zustande.

Mrs. America 2020 - filmstill Mrs. America 2020 EDITORIAL USE ONLY Copyright: xCAP/SFSx
Auch die Serie «Mrs. America» mit Cate Blanchett als Antifeministin ist eine Sher-Produktion.Bild: www.imago-images.de

Stacey Sher war zu Grösserem geboren. Und die Scripts, in denen sie ein Potential sah, die jedoch ausser ihr niemand realisieren wollte, wurden fast allesamt zu grossen Erfolgen: «The Fisher King», «Reality Bites», «Pulp Fiction», «Get Shorty» gehörten zu ihren ersten Filmen und formten unsere Kinoerfahrung der 90er-Jahren. Mal erkannte sie ein Drehbuch, mal einen Regisseur, mal einen Star. Etwa, dass in George Clooney weit mehr steckte als ein TV-Darsteller, der zur Abwechslung mal in Strumpfhose in «Batman & Robin» rumgeblödelt hatte. Bei ihr wurde er zum Star von «Out of Sight».

Winona Ryder and Ethan Hawke USA. Winona Ryder and Ethan Hawke in a scene from the CUniversal Pictures movie : Reality Bites 1994 . Plot:A documentary filmmaker and her fellow Generation X graduates f ...
In «Reality Bites» sind alle ziemlich realitätsfremd und die hinreissende Winona Ryder verdreht Ethan Hawke und Ben Stiller (der auch Regie führte) schampar die Köpfe.Bild: www.imago-images.de

Quentin ist ihr Ex

Mit Quentin Tarantino verband sie zunächst nicht nur Berufliches. Die beiden waren ein Paar, «vor Pulp Fiction», wie es heisst, also bevor er seinen Fetisch für Uma Thurman und nackte Füsse auf der Leinwand ausleben konnte. Die beiden blieben enge Freunde, sie haben auch bei «Django Unchained» und «The Hateful 8» zusammengearbeitet. Dass Tarantino und Soderbergh in den 90ern zu den absoluten Ausnahmetalenten zählten, «war für mich offensichtlich», sagt sie, «sie waren magisch. Beim Film machen wir keine Wissenschaft, wir machen Alchemie, Zauberei. Ich kann nicht wirklich erklären, wie so was funktioniert, aber ich kann mich auf mein Bauchgefühl verlassen, ich merke, wenn jemand eine Vision hat».

Trailer «Heretic»

Gerade arbeitet sie an «Heretic», einem kanadischen Horrorfilm mit Hugh Grant als Bösewicht, der Christenmädchen jagt, aber hier in Locarno wurde ihr plötzlich noch ein ganz anderer Film zugeschrieben, für den sie nun wirklich nichts kann, «Blink Twice», das Regiedebut von Zoë Kravitz.

«Ich habe nichts, nichts, nichts mit diesem Film zu tun! Ich habe ihn letzte Woche gesehen und war total begeistert. Dann wurde ich in Locarno gefragt, ob ich noch Hoffnung hätte für die Zukunft des Kinos und seine ‹Auteurs›, und ich sagte, natürlich, ich habe gerade diesen Film von Zoë Kravitz gesehen, der mich umgehauen hat! Und plötzlich war da diese Headline im Branchenblatt ‹Variety›, die suggerierte, ich hätte den Film produziert.»

Die Zukunft ihres eigenen Jobs sieht sie weit weniger rosig als diejenige einzelner Ausnahmetalente: «Früher hatten Leute wie ich feste Verträge mit einem Studio, wir hatten Büros, Krankenversicherungen und ein Gehalt und konnten uns ganz der Arbeit mit aussergewöhnlichen Talenten widmen. Ich kriegte Geld, um einfach ins Blaue hinaus einen Stoff mit Quentin zu entwickeln. Heute gibt's so was nicht mehr. Alles wird durch die Linse des möglichen Profits betrachtet. Wo ist die Zeit zum Träumen geblieben?»

Na wo wohl? Hier in Locarno natürlich. Dank Menschen wie Stacey Sher, die ganz gewaltig dazu beigetragen haben, unsere Vorstellungen von Träumen (und Alpträumen, looking at you, Hugh Grant) zu formen. Grazie per tutto.

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