Es ist Oktober 1900 und in einem Münchner Wohnzimmer wird der Ausstieg geplant. Drei Frauen und drei Männer – der Jüngste ist 19, die Älteste 36 – wollen jeden Rest von Bürgerlichkeit hinter sich lassen. Sie wollen weg. In ein anderes Leben. Sie träumen von einer Kolonie im Tessin oder in Norditalien, vielleicht haben sie Goethes Zeile «Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?» im Kopf, auf jeden Fall erliegen auch sie der volldeutschen Sehnsucht nach dem Süden.
Und dann brechen sie auf. Wandern einfach los. Ihre Kleider sitzen locker, ihre Haare sind lang, auf ihrem Weg sorgen sie immer wieder für Volksbelustigung. Ihre Ernährung ist vegetarisch, aber nicht, weil sie Tiere lieben, sondern, weil sie sich nicht auf die Entwicklungsstufe von Tieren begeben wollen. Man darf sie ruhig Snobs nennen. Vier kommen aus sehr gutbürgerlichen Familien. Nur zwei österreichische Brüder sind ehemalige K.u.k-Soldaten.
Die sechs wollen ein Sanatorium gründen, wo sich Gleichgesinnte bei Sonnenbaden, Nackttanzen und Wurzelgemüse erholen können. Vom Stress der Grossstädte. Oder vom Drogenkonsum. Oder vom Korsett der bürgerlichen Liebe. Körper und Seele sollen von allem befreit werden. Ein bisschen Feminismus soll auch möglich sein. Jedenfalls stellt sich dies die Industriellentochter und Pianistin Ida Hofman so vor.
Eine der sechs ist besonders erleuchtet: Die 23-jährige Lotte Hattemer hat bereits ein Stück des grossen Ausstiegs geschafft: Die Tochter des streng katholischen Berliner Bürgermeisters und Eisenbahndirektors Heinrich Hattemer hat nach einer Ausbildung zur Lehrerin erst ihre Eltern beklaut und ist dann nach Hamburg gegangen, wo sie im Hafen in einer Matrosenkneipe kellnerte. Dort soll sie den Münchnern begegnet sein.
Bereits da soll sie die Aura einer Heiligen aus der Hafenkneipe gehabt haben. 1923 schrieb ein Dokumentarist jener Früh-Hippie-Szene über sie: «Sie war in dem Sumpf (von Hamburg) rein geblieben.» Angeblich soll sie damals auch noch von keinem Mann berührt worden sein. Das wird sich in einem gelobten Land der freien Liebe namens Schweiz bald ändern. 1923 gibt es Lotte allerdings schon seit 17 Jahren nicht mehr. Sie stirbt im April 1906 mit 29 Jahren an einer Überdosis Morphium.
Im Süden angelangt, trennen sich die sechs und suchen nach einem idealen Ort für ihre Kommunengründung. Lotte und Ida wandern zu zweit vom Comersee in Richtung Lugano. Männer bieten den beiden Frauen an, doch für einen Dreier bei ihnen zu übernachten. Es regnet. Es ist kalt. Trotzdem macht Lotte ihr, wie Ida in ihren Aufzeichnungen schreibt, «von gymnastischen Übungen begleitetes Luftbad», was bedeutet, dass sie nackt vor einer besorgten Tessiner Wirtin herumtanzt. Aus Locarno melden die österreichischen Brüder Karl und Gusto Gräser: «Hier findet man wirkliche Menschen, auch langhaarige ...» Die Erleichterung ist gross.
Erstaunlich ist das allerdings nicht: Seit der russische Anarchist Mikhail Bakunin in den 1870er-Jahren in Minusio in der Villa Baronata Hof führte, ist Locarno ein beliebter Anarchistentreff. Und die ebenfalls russische Baronin Antoinette de Saint Léger (angeblich eine uneheliche Tochter von Zar Alexander II) besitzt die Brissago-Inseln und hat sie zu einem internationalen Zentrum der Bohème gemacht.
Die Wandergruppe aus München könnte sich keinen besseren Ort aussuchen als den waldigen Hügel bei Ascona, den sie Monte Verità tauft. Sie beginnen zu roden und zu bauen – und trennen sich. Was in der Theorie funktionierte, das freie, fröhliche Zusammenleben, misslingt. Lotte Hattemer zieht als Einsiedlerin in einen fensterlosen Stall und betreibt einen kleinen Weinberg. Regelmässig schickt ihr Vater Geld – sie verschenkt es unter der armen Bevölkerung des Fischerdorfs Ascona.
Einmal bittet sie ihre Eltern um Geld für das neue Gebiss einer armen Frau. Die Einheimischen beginnen, Lotte zu verehren und nennen sie Santa Lotta. Und weil sie von ihrem streng katholischen Elternhaus mit allerlei Mystizismus imprägniert wurde, gefällt sie sich in der Rolle der Heiligen. Mit Hilfe lebensgefährlicher Diäten steigert sie sich in religiöse Ekstasen. Wenigstens isst sie gerne Schokolade.
Auch wenn sie nur peripher zur Kommune auf dem Monte Verità gehört, so ist die Selbstverschwenderin dort doch notwendig. Man braucht die regelmässigen Geldsendungen ihres Vaters. Wenn sie selbst etwas nötig hat, klaut sie es. Ihr Stall gleicht einem lokalen Fundbüro. Der Berliner Schriftsteller Erich Mühsam, der eine Weile bei ihr wohnt, schreibt: «In einem tollen Durcheinander Koffer, Utensilien, Nahrungsmittel, Bücher, Briefe und Ratten; dazwischen Bindfaden, Lederriemen, Matratzen, Holzklötze und was noch alles. Eine einzelne Sandale, ein ehemaliger Hut und ein paar Glasscherben vervollständigen das Bild.»
Zu den Heilsuchenden gehört auch der österreichische Psychiater, Psychoanalytiker, Anarchist und Saccharinschmuggler Otto Gross. Der beliebte Süssstoff Saccharin ist in Österreich und Deutschland nur gegen Rezept in Apotheken erhältlich. Der Schmuggel funktioniert über die Drehscheiben Holland und Schweiz und bis nach Russland. Für Gross ist der Handel mit dem harmloseren der weissen Pulver nicht zuletzt ein Protest gegen die staatlich unterstützte Zuckerindustrie.
Gross kennt die Schweiz vor allem als Kranker. 1902 wird er als 25-Jähriger in der Zürcher Klinik Burghölzli gegen seine Kokainsucht behandelt. Erfolglos. 1906 zieht er mit seiner Frau nach Ascona, um auf dem Monte Verità einen Entzug zu machen. Wie Lotte wird auch er grosszügig von seinem Vater, einem bedeutenden Grazer Juristen, finanziert.
Als Arzt wird er zum Dealer der Kommune. Mehrere suizidgefährdete Frauen werden von ihm mit hohen Dosen von Kokain, Morphium oder Opium versorgt. Darunter auch Lotte, die seit Monaten Suizidabsichten äussert und zunehmend verwirrt ist. Die junge deutsche Kommunardin Käthe Kruse, die später eine weltberühmte Puppenmacherin wird, beschreibt Lotte Hattemer als «mit sich und der Welt zerfallen, gänzlich verkommen» und «dem sicheren Hungertod nahe».
Im April 1906 kommt Lottes Vater nach Domodossola. Käthe Kruse sorgt dafür, dass Lotte zu ihm fährt. Er soll sie nach Stettin bringen, wo er inzwischen als Eisenbahningenieur arbeitet. Vater und Tochter treffen sich, doch die Tochter kehrt nirgendwohin zurück, weder auf den Berg der Wahrheit noch nach Stettin. Sie vergiftet sich mit einem Cocktail aus Kokain und Opium. Ein herbeigerufener Arzt pumpt ihr den Magen aus, doch es ist zu spät. Richtig geholfen hat ihr niemand.
Drei Jahre später bittet die Münchner Polizei die Zürcher Justiz- und Polizeidirektion um Auskunft über einen gewissen Dr. Gross. Es geht das Gerücht, dass Gross (der zwei Tage vor Lottes Tod Ascona verlässt) Lotte zusammen mit Mühsam und einem weiteren Anarchisten den tödlichen Cocktail eingeflösst habe, weil sie zu viel über ihre anarchistischen Umtriebe gewusst habe. Doch Dr. Gross ist der Zürcher Polizei nicht bekannt. Und die Locarneser Behörden melden nach Zürich: «Die allgemeine Stimmung war die, dass sie (Lotte Hattemer) sich freiwillig vergiftet hatte. Sie galt als eine ziemlich exzentrische Person und es scheint, dass sie schon bei anderen Gelegenheiten Hand an ihr Leben legte.»
1911 stirbt die 26-jährige Malerin Sophie Benz in Ascona an einer Überdosis Kokain. Auch sie steht Gross nahe. 1912 wird er wegen Mord und Beihilfe zum Selbstmord zur Fahndung ausgeschrieben, 1913 wird er in die Irrenanstalt Tulln eingewiesen, 1914 wieder entlassen. Er gesteht, Lotte Hattemer 5 Gramm Kokain und 10 Gramm Morphium gegeben zu haben. Er habe ihr seine Liebe erklärt, um ihr Vertrauen zu gewinnen, und ihr das Gift nur gegeben, weil er verhindern wollte, dass sie «auf schreckliche Art und unter Schmerzen sterben» müsse, derart klar sei ihm ihre Suizidabsicht gewesen, derart «absolut entschlossen» sei sie gewesen. Trotzdem habe er sie aufgefordert, mit ihm nach Graz zu kommen und sich dort von ihm behandeln zu lassen.
Auch Sophie Benz habe er nicht vom Selbstmord abhalten können, er hätte sie dafür in eine psychiatrische Anstalt einweisen müssen. «Dass ich das nicht getan habe, ist mir das einzige Bewusstsein, welches tröstet.» Gross stirbt 1920 an den Folgen eines weiteren Entzugs in Berlin. Er wurde immerhin 42 Jahre alt.
Die tragische Lotte Hattemer geistert bis heute als entrückte Elfe durch die Erzählungen über den Monte Verità. Aktuell ist ist sie – in Spurenelementen – im Schweizer Film «Monte Verità» zu sehen. Ein schmerzensreiches Blumenkind, gespielt von Hannah Herzsprung, und sowas wie der glitzernde Pulsschlag eines Films, der sonst ein Hauch von Nichts ist. Die Spinnwebe einer erfundenen Rahmenhandlung hinter die all die aufregenden Legenden und Historien zurücktreten müssen. Der Monte hätte eine tiefere Wahrheit verdient. Aber wenigstens wurde Lotte ein kleines Denkmal gesetzt.
«Monte Verità» läuft im Kino.
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