Kein Tag vergeht, an dem die Schlacht ums Geschlecht nicht geführt wird. Sei es die Frage nach einer gesetzlichen Regelung der «Ehe für alle». Sei es der so sehr gefürchtete akademisch-elitäre «Gendersprech», also ein sensibilisierter Sprachgebrauch, wenn es um Gruppierungen geht, die mehr als nur «Männer» oder «Frauen» umfassen. Sei es J.K. Rowlings Absage an Transfrauen, Frauen zu sein. Sei es die Musikerin Kate Tempest, die im August verkündete, jetzt nicht mehr eine «her», sondern «they» zu sein, also eine alles umfassende Mehrzahl, und nicht mehr Kate, sondern Kae zu heissen.
Und natürlich ist da Elliot Page mit seiner Befreiungs- und Selbstfindungsgeschichte in mehreren Akten: Vor sechs Jahren hatte die Schauspielerin Ellen Page ihr Coming-out als Lesbe und heiratete eine Frau, jetzt hat Elliot sein Coming-out als trans*.
Der Wortlaut beider Eröffnungen von Page ist sich ähnlich, damals wie heute ging es darum, nicht mehr lügen zu mögen, sich nicht mehr verstecken zu wollen, endlich sich selbst sein zu dürfen, keine Not mehr leiden zu müssen. Das gleiche sagen auch etliche Sportler und Sportlerinnen, die in den letzten Jahren ihr Coming-out wagten.
Und immer jammern irgendwo ein paar Männer über den Verlust von Privilegien. Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq sagt, dass er Islamismus Scheisse, aber Prostitution super findet. Lohngleichheit gibt es noch immer nicht. Über Abtreibungsverbote wird diskutiert. Und all dies spielt sich nur innerhalb der Grenzen unserer westlichen Welt ab. Wenn man über sie hinausschaut, wird einem eh schlecht über all die – nicht selten lebensbedrohlichen – Differenzen zwischen dem, was als Norm und Normalität betrachtet wird, und allem, was davon auch nur einen Schritt weit abweicht.
Die Heftigkeit derer, die den Gendersternchen-Terrorismus und die Auslöschung via Quotentod befürchten, prallt bei uns auf die schrille Lautstärke der andern, die ungeduldig und lieber vorgestern ihre sexuelle Revolution ausleben wollen.
Kommunikation ist also dringend nötig. Entspannung. Vermittlung. Ein Raum, der einfach mal versucht, alle Fragen zu beantworten. Unvoreingenommen. Der historische Fakten und statistische Objektivität präsentiert, Ängste herleitet und sie aber auch nimmt, und der vor allem das Wichtigste im Zusammenhang mit Geschlecht nicht vergisst: Die Neugier auf eine gemeinsame Intimität, Vertrauen, Freude an der Lust.
Und da wären wir nun in Lenzburg angekommen. Wo das Museum Stapferhaus verspricht, sich um die «grossen Fragen unserer Zeit» zu kümmern und «sinnlich erfahrbare Ausstellungswelten» zu liefern. Also ein Museum bi de Lüt zu sein. «Geschlecht jetzt entdecken» steht an der Fassade, und so wie Geschlecht grafisch aufgesplittet ist, ergibt sich ein «GE», mit dem sich «Geschichte» assoziieren lässt, ein «SCHL» wie von der erotisch so verhängnisvollen Schlange im Paradies. Schliesslich «ECHT», was ja eh eine der grössten Fragen ist, die man stellen kann, die nach der «Echtheit» beziehungsweise Machbarkeit von Geschlecht, sei es medizinisch oder soziologisch.
Schon der Eingang ist anturnend einladend, man geht durch eine bunte, irgendwie übersexualisiert wirkende Blüte samt Schlange, wartet dann in einem kleinen Spiegelkabinett – überhaupt sind Spiegel zentral, immer wieder tauchen sie auf und zeigen, dass man mitgemeint ist und Teil der Ausstellung. Und dann geht's in einen Kreisssaal, dorthin also, wo man zur Welt gebracht wird, bloss ist hier ein Kreissaal gemeint mit einer 360-Grad-Videoprojektion über die Sache mit den Chromosomen und Hormonen, und dass schon da nicht alles ganz eindeutig laufen muss. Das ist nichts Neues, aber die Visuals sind so atemberaubend und LSD-Trip-artig berauschend, dass die Leute mit offenen Mündern dasitzen und runterkommen von jedem Covid-Stress, der einen draussen, am Bahnhof, noch gefangen hielt.
Ausgespien beziehungsweise in die Ausstellung hineingeboren wird man nach Wahl durch ein rosa oder ein blaues Zimmer, wo ganz simpel all das hängt, was es für Buben und Mädchen im weltlichen Warenparadies so zu kaufen gibt. Und dann steht man in einem riesigen, ebenfalls bunten Saal, Zeitlinien führen der Wand entlang, wir lernen, dass die antiken Griechen grosse Penisse als Zeichen für Dummheit verachteten, während sie – wieso wohl? – knabenhaft zarte verehrten. Dass der Theologe Thomas von Aquin mit Unterstützung von Aristoteles behauptete, nur unter besonders ungünstigen Umständen würden überhaupt Mädchen gezeugt, etwa «bei feuchten Südwinden».
1472 wehrte sich eine deutsche Prostituierte gegen ihre samstägliche Nachtschicht, weil sie da immer der Jungfrau Maria huldigen müsse, und bekam vor Gericht recht. Lange galten schmächtige Frauen mit kleinen Brüsten als schön, weshalb in Spanien bis ins 17. Jahrhundert den Mädchen Bleiplatten auf die Brüste gelegt wurden, um deren Wachstum zu verhindern. Männer dagegen protzten mit besonders grosszügig ausgepolsterten Schamkapseln.
Und so weiter. Die Anekdoten sind anschaulich, oft unterhaltsam, manchmal verstörend, etwa die Diskussion aus dem «Zischtigsclub» von 1994, in dem Fragen verhandelt wurden wie etwa, ob eine Begegnung mit einer lesbischen Vereinskollegin für eine Fussballerin ähnlich schlimm sei wie der Übergriff durch einen Trainer. Es zeigt sich, wie unendlich lang der Weg zur Gleichberechtigung bereits ist. Und wie klein die Schritte sind, die darauf gegangen wurden.
Unterstrichen wird dies durch eine Kammer, in der nur Statistiken inszeniert werden, als Leisten auf dem Boden, die man lesen oder abschreiten kann, etwa, wie die Altersrente aus beruflicher Vorsorge zu 69 Prozent an Männer geht. Oder dass der FCZ von seinem Jahresbudget (14,9 Millionen Franken) bloss 3 Prozent für den Frauenfussball aufwendet.
Aus einer andern Kammer dringt dagegen lautstarkes Gepolter: Eine Gruppe Jungs, die aus Zürich gekommen ist, hat sich High Heels angezogen (sie stehen bis Grösse 47 bereit) und versucht auf einem Laufsteg «Germany's Next Topmodel» zu imitieren. Lange sieht das grässlich aus, bis einer erlickt, dass man «nur mit der Hüfte so und so» machen muss.
Kinder verkleiden sich – Mädchen wie Buben wollen Röcke tragen – und rennen durch die Säle, und das passt zu einem der Testimonials, die man abhören kann: Leute präsentieren ihr Lieblingsaccessoire, für Christoph, 63, Taxifahrer aus Lenzburg, ist das ein Jeansjupe, er fand die langen Autofahrten in Hosen irgendwann so unbequem, dass er in der Migros nach einem Jeansjupe langte und darin sehr glücklich wurde. Seine Frau habe dies eine Minute lang komisch gefunden, dann sei die Sache gegessen gewesen. Der fünfjährige Cris schwärmt von seiner Meerjungfrauen-Flosse, mit der er viel besser schwimmen könne als ohne. Allerdings hasst er es, wenn er deswegen «Mädchen» genannt wird.
So geht es immer weiter, Leute lauschen Lebensgeschichten oder den radikal pragmatischen Antworten der deutschen Sexologin Ann-Marlene Henning auf Fragen zu Liebe, Pornografie oder Selbstbefriedigung. Zwischen drei und fünf Stunden kann so ein Ausstellungsaufenthalt dauern, und wer alles angeschaut, gelesen, gehört oder ausprobiert hat, kommt auf dem Weg zum Ausgang an hübsch gestalteten Séparées vorbei, in die man sich zu zweit setzen und Drängendes nachbesprechen kann. Nützen das die Leute? Überraschenderweise ja.
Man muss für diese Ausstellung kein Genderfachmensch sein (diese werden im Katalog aber auch noch bedient), man kann sie ungeniert mit der ganzen Familie besuchen, sie nimmt alle bei der Hand, aber nicht aufdringlich pädagogisch oder gar missionarisch, sondern so, dass man das Museum verlässt und sich gut fühlt. Beschwichtigt. Beruhigt. Getröstet von der Gewissheit, dass nicht nur die Natur bunt und vielfältig und grosszügig ist, sondern dass dies auch die Gesellschaft zu sein vermag. Mit jedem Tag ein wenig mehr.
Einiges braucht unerträglich viel Zeit. Doch Vieles ist möglich. Und Vieles ist gut. Es behauptet sich zwischen dem grossen Geschrei und zwischen den Fronten mit einer Sanftheit und einer Fantasie, die herzzerreissend sind.
Die Ausstellung «Geschlecht – jetzt entdecken» läuft bis zum 31. Oktober 2021.
Aber sonst hängt mir das Gender-Zeugs zum Halse raus. Das sind Probleme, die wir nur haben, weil es uns trotz Pandemie immer noch zu gut geht.
Ich habe im Prinzip nichts dagegen, dass über Gleichberechtigung, Gleichheit und Sexismus diskutiert wird. Wir leben gottseidank in Zeiten, in denen wir dies können. Vor allem, wenn wir dabei die wirklichen Probleme in den Hintergrund stellen.
Wenn wir den Klimawandel nicht schaffen, wird es egal sein, ob wir die Folgen bei völliger Gleichberechtigung tragen müssen.