Es gibt ein letztes Foto der lebenden Sisi, es hängt im ungarischen Nationalmuseum in Budapest und ist am Tag vor Sisis Ermordung in Genf entstanden, am 9. September 1898. Eine Momentaufnahme, die Sisi gehasst haben dürfte, wenn sie sie noch gesehen hätte. Die Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn war unter einem Pseudonym in Genf abgestiegen und hatte ihr Gesicht schon seit Jahren nur verschleiert in der Öffentlichkeit gezeigt.
Auf dem Bild sind sie und ihre letzte Hofdame, die ungarische Gräfin Irma Sztáray unverschleiert zu sehen, sie hasten der Fensterfront einer Brasserie, die auch Billardabende anbietet, entlang, beide tragen hochgestecktes Haar unter dunklen Federhüten, an Sztárays linkem Arm hängt ein heller Regenschirm, sie reicht der Kaiserin einen Gehstock. Ein Alltagsbild. Sisi ist 60. Sztáray 35. Am nächsten Tag wird Sisi nach dem fatalen Feilenstich des italienischen Anarchisten Luigi Lucheni in Genf in Sztárays Armen verenden. Sisi hatte die junge Gräfin vier Jahre zuvor engagiert, weil sie eine fittere Begleiterin brauchte, eine, die bei dem royalen Sportwahn nicht immer keuchend zurückblieb.
Das in Budapest gehütete Bild der beiden ist historisch. Doch Sztáray sieht exakt aus wie das «Ich» aus Frauke Finsterwalders neuem Film «Sisi & Ich». Wie die Schauspielerin Sandra Hüller. Was für ein unheimlich genaues Casting. Fast schon gespenstisch.
Und dabei war die Historie eben gerade nicht Frauke Finsterwalders Arbeitsgrundlage, wie sie nach einer Vorstellung in Zürich erzählt. Sie hatte sich laufmeterweise Fachliteratur angeschafft, doch als bekannt wurde, dass sie einen Sisi-Film machen wird, meldeten sich so viele hilfreiche österreichische Historiker bei ihr, die nun wirklich alles über Sisi am allerbesten zu wissen glaubten, dass sie die Fachliteratur samt Historikern lieber wieder liegen liess.
Sie brauchte für ihre Arbeit eine Vision. Und die hatte sie. Die Vision einer jener Frauen nämlich, die an Sisis Seite lebten, die ihr jeden ihrer wachen und auch träumenden Momente widmeten. Frauen, die jahrelang keinen anderen Lebensinhalt als Sisi hatten, die jeder ihrer Obsessionen, den guten wie den schlechten, ausgeliefert waren. Groupies an der Seite ihres Superstars. Und viele davon, auch Sztáray, veröffentlichten später ihre Memoiren. Als sie einmal Urlaub bekommt, ist sie regelrecht liebeskrank: «Wo ich auch weile», schreibt sie, «was immer ich tue, stets ist mir meine Kaiserin gegenwärtig. Ihre schlanke Gestalt steht vor mir, ihr Blick ruht auf mir und ich glaube, ihre liebe Stimme zu hören.»
Sztárays Vorgängerin, die wegen physischer Überforderung abgesetzte Marie Festetics, war eben erst in Marie Kreutzers anderem Sisi-Film «Corsage» zu sehen gewesen, damals ging es um die mittleren Jahre der Kaiserin. Jetzt geht es um die letzten, die Jahre, die sie fast nur noch auf Korfu verbrachte oder in Algier, immer auf Reisen, oft auf See, immer auf der Flucht – vor dem Hof, vor dem eigenen Bild als schönster Frau Europas, das sie selbst doch mit aller Macht zementiert hatte, vor dem Altern, dem Essen, der Langeweile, vor allem, was nicht einen essenziellen Moment von Schönheit enthält.
Natürlich ist dies die dekadente Flucht einer privilegierten Frau, sie ist hinlänglich bekannt, und eigentlich, findet Frauke Finsterwalder, war diese Sisi eine ziemlich langweilige Person. Interessant waren die anderen, die Abhängigen. Irma Sztáray, aber auch Graf Berzeviczy (Stefan Kurt), ein ergebener Höfling, der im richtigen Leben einen Handschuh von der kaiserlichen Leiche stahl. Und interessant ist, was Finsterwalder, Wolff und Hüller daraus gemacht haben.
Finsterwalder hat das Drehbuch zusammen mit ihrem Mann, dem Schriftsteller und Schweizer Buchpreis-Träger Christian Kracht geschrieben, und da ist es natürlich klar, dass uns im Kino eine gehörige Portion Popkultur und Ironie entgegenbranden, vom Soundtrack, der mit Portishead beginnt, über die erstaunlich modernen und hoch stylishen Kostüme, bis hin zur Kokainkur auf Korfu, einem Haschischtrip in Algier und schönen Sätzen wie «bei Männern muss ich immer an Tischtücher denken».
Und dabei beginnt dieses Schmetterlingshaus der ästhetisch anzuschauenden Neurosen höchst handfest, nämlich mit der Tauglichkeitsprüfung der enorm ungraziösen Irma (die im Film 12 Jahre älter ist als in der historischen Realität), Rennen, Hürdenlauf, Ringturnen müssen absolviert werden, Irma hat zwar Kraft, ist aber sonst in allem das Gegenteil der Kaiserin. Allmählich nähern sich die beiden Frauen einander an, Irma erstarkt, findet sich im Höfischen zurecht, wird zum selbstbewussten Flirt, Sisi findet mit ihr zu fast mädchenhafter Gelöstheit, die beiden feiern eine innige, alberne, romantische Freundschaft voller unvernünftiger Abenteuer.
Doch Sisi braucht immer noch mehr neue und jüngere Bestätigungsmenschen, die nur ihr gehören, sie verhält sich oft missbräuchlich und prangert doch immer den Missbrauch ihrer eigenen Person an. Es ist ein wenig wie bei Harry und Meghan, sie sitzt im selbstgewählten Luxusexil und jammert über den Hof in Wien, bloss tut sie das mit viel mehr Stil und scharfen Pointen. Für Irma ist die Lage klar, «ich liebe dich, Elisabeth», sagt sie.
Überhaupt lieben hier immer alle einander, Libido und Eifersucht sind so fliessend wie die Gewänder, und im Darm von Sisis schwulem Schwager befinden sich nach dessen Angaben «mehrere Hektoliter Offizierssamen». Nur Sisi hasst hier ihren Franzl. Und alle Mütter hassen ihre Töchter. Am Anfang fliesst Irmas Blut, weil sie von ihrer Mutter geschlagen wird. Am Ende fliesst Sisis Blut. In Genf.
«Sisi & Ich» ist wunderschön, zweieinhalb Stunden schwelgt man in Sandra Hüllers immer enorm direkter, überraschender, überragender, hochkomischer Schauspielkunst, wie sie von ihr zuletzt so gross in «Toni Erdmann» zu sehen gewesen ist. Das Fatale ist bloss, dass der Film wenige Monate nach «Corsage» ein Déjà-vu ums andere evoziert: Die reife Kaiserin, ihr Sport, ihre Diätsucht, das Einstellen von Doppelgängerinnen für öffentliche Auftritte, die Liebe zum Wasser, die England-Reise samt der Zuneigung zu einem jungen Reiter, die zeitgenössische Soundkulisse und nicht zuletzt die Ironie und die zum Florett geschliffene Sprache – all das war doch eben erst im Kino.
Ein Zufall? Eine Zeitgenossenschaft der neuen Bilder einer Kaiserin? «Habe ich eben den gleichen Film zum zweiten Mal gesehen?», fragt ein Zuschauer. Man möchte ihm widersprechen, doch irgendwie bleibt der Widerspruch im Hals stecken.
«Sisi & Ich» läuft ab dem 30. März im Kino.