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«Becoming Giulia»: Laura Kaehr über Brutalität und Sexismus im Ballett

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Zwischen Ästhetik und Folter: Warum Ballett brutal, sexistisch und doch schön ist

Eigentlich wollte ich mit Laura Kaehr bloss über ihren tollen Dokumentarfilm «Becoming Giulia» reden. Doch dann kam vieles hoch. Über kruden Machtmissbrauch im Ballett, uralte Rollenbilder und einen friedensbewegten Urgrossvater.
19.03.2023, 14:1920.03.2023, 08:45
Simone Meier
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Besessen vom Ballett

Ballett war meine Obsession. Meine absolute Obsession. Nachts träumte ich von Figuren, die ich noch nicht beherrschte, tagsüber redete ich ungern über was anderes, ich watschelte in einem erstaunlich graziösen Entengang durch die Gegend, weil meine Füsse gar nicht mehr wussten, wie sie anders gehen sollten, auch nach aussen gedreht, und wenn sie nach dem Spitzentanz bluteten, war das für mich so erfüllend wie für andere der Messerschnitt in die heile Haut.

Meine Vorstellungen von Liebe waren geprägt von den Figuren klassischer Handlungsballette: Odette aus «Schwanensee», die sich nur durch die Liebe eines Mannes aus einem Schwan in eine Frau zurück verwandeln kann; Giselle, die sich aus unerfüllter Liebe umbringt; Julia, die sich aus familiär verhinderter Liebe umbringt, lauter Frauen, die sich für die Liebe opfern oder darüber wahnsinnig werden. Schöne Vorbilder. Ich wollte Tänzerin werden. Zum Glück waren meine Eltern dagegen.

In this Sept. 3, 2014 photo released by ABT, Misty Copeland performs in "Swan Lake," at the Queensland Performing Arts Centre in Queensland, Australia. Copeland danced the lead role of Odett ...
Wenn die Geliebte plötzlich zum gefiederten Tier wird: Die amerikanische Primaballerina Misty Copeland in «Schwanensee», dem Ballett aller Ballette.Bild: AP ABT

«Jetzt ist er im Gefängnis»

Ballett, sage ich jetzt im Skype-Gespräch zur Tessiner Dokfilmregisseurin Laura Kaehr, war mein Himmel und meine Hölle, das süchtig machende Aufgehen meines Körpers in eine höchste Ästhetik und zugleich so, so viel Schmerz. «Ja, ja», sagt Laura Kaehr, «genau so», sie kennt das, die Tessinerin war selbst Profitänzerin, bis 27, dann stieg sie aus.

Wieso? «Zuletzt arbeitete ich beim Belgier Jan Fabre», Fabre war eine Gottvater-Institution des modernen Tanzes, «er machte ein Projekt über Gewalt und Vergewaltigung. Und er war von Insekten besessen. Die meisten anderen Tänzerinnen und Tänzer waren komplett in ihn verliebt, aber ich sagte mir: What the fuck, this is horseshit! Es ist nicht interessant und es ist Folter. Na ja, jetzt ist er im Gefängnis.»

ZURICH, SWITZERLAND - SEPTEMBER 23: Director Laura Kaehr attends the "Becoming Guilia" photocall during the 18th Zurich Film Festival at Kongresshaus on September 23, 2022 in Zurich, Switzer ...
Laura Kaehr stammt aus Locarno und arbeitete als Tänzerin in der halben Welt.Bild: Getty Images Europe

Die Sache mit den Insekten führt sie nicht aus, man will gar nicht anfangen, sich vorzustellen, was Fabre damit angefangen haben könnte, keiner hat die Angst junger Tänzerinnen und Tänzer vor der Arbeitslosigkeit derart sadistisch ausgenutzt wie er. Solos gab es klar deklariert gegen Sex, Schmerzensschreie auf der Bühne mussten nicht nur echt klingen, sondern echt sein, einer Tänzerin steckte er bei einem Fotoshooting unangekündigt Erdbeeren in die Vagina, es kam zum Prozess. «Jetzt sitzt er im Gefängnis» ist an dieser Stelle metaphorisch zu verstehen, Fabre wurde zu einer 18-monatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Und Laura Kaehr hat einen Ballettfilm gedreht.

Weiblichkeit ist unerwünscht

Oft beleuchten Filme die dunkle Seite des Balletts, die psychotische, die magersüchtige, Horrorfilme wie «Black Swan» oder «Die roten Schuhe», in denen sich physische Zerstörung und Realitätsverlust kreuzen, oder Serien wie «Flesh and Bone» und «Tiny Pretty Things». Sie treffen einen Kern, den des gefährlichen schönen Selbstverlusts. Laura Kaehrs Film «Becoming Giulia» erzählt das Gegenteil und er erzählt die Geschichte einer echten Tänzerin, Giulia Tonelli, Primaballerina am Zürcher Opernhaus.

Trailer zu «Becoming Giulia»

Das grosse Anliegen von Laura Kaehr und Giulia Tonelli ist es, zu zeigen, wie eine Karriere als Tänzerin mit der Geburt eines Kindes vereinbar ist. Eigentlich gar nicht. Nicht in einer Welt, die tagsüber aus Proben und nachts aus Vorstellungen besteht. Nicht in einer Welt, deren Protagonistinnen immer dünn, muskulös und möglichst ätherisch sein müssen, in der schon das Wachstum von Brüsten zum Problem wird. Nicht in einer Welt, die immerzu Erschöpfung fordert.

«Was am Ballett nicht normal ist, ist, dass fast überall Männer das Sagen haben, ich habe nie einen Choreografen getroffen, der weibliche Körper mochte, idealerweise sollten wir wie Buben aussehen», meint Kaehr.

Natalie Portman Characters: Nina Film: Black Swan USA 2010 Director: Darren Aronofsky 01 September 2010 PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: MaryxEvansxAFxArchivexFoxxSearchlight 12686527 editor ...
Auch Natalie Portman müht sich im gar nicht so unrealistischen Horrorfilm «Black Swan» mit «Schwanensee» ab.Bild: www.imago-images.de

Mutterschaft vs. Macht

«Die Idee, Mutterschaft mit einer Tänzerinnenkarriere zu vereinen, wird für junge Frauen in einer derartigen Umgebung zu einem Problem, einer Quelle der Angst, einem Tabu. Die Ballettwelt ist ein Mikrokosmos, der den Sprung in die Jetztzeit noch nicht wirklich geschafft hat. Und an den Schaltstellen sitzen Männer mit einer altmodischen, royalen Vorstellung von Macht. Erinnern Sie sich an den Chefchoreografen von Hannover, der neulich eine Kritikerin mit Hundescheisse beschmierte? In was für einer Welt lebt der! Öffentliche Institutionen haben eine grosse Verantwortung, Kultur und Gesellschaft in Einklang zu bringen.»

Kann es sein, dass sich Gebären und Ballett aus einer körperlichen, weiblichen Perspektive ähnlich sind? Was den Grad von Intensität und Schmerz betrifft? «Daran habe ich gar nicht gedacht, aber ja, das stimmt», sagt Kaehr.

Sleeping Beauty, by Henry Meynell Rheam, 1899
«Dornröschen»: Wo die Rosen und Neurosen blühen. Eingefangen von Henry Meynell Rheam, 1899.Bild: wikimedia.org

Klassisches Ballett imitiert noch immer allzu oft eine alte Zeit, Choreografien, die über hundert Jahre alt sind. «Die Oper ist da viel frischer, zeitgemässer, wagt neue Interpretationen und Narrative, das wünsche ich mir auch fürs Ballett.» «Dornröschen» etwa müsste viel direkter zum Punkt kommen. «Seien wir ehrlich: Das ist die Geschichte eines Mädchens, das die Periode kriegt. Punkt. Was soll dieser Quatsch mit der Spindel, mit der sie sich als 15-Jährige in den Finger sticht? Ihr Körper verändert sich und das ist traumatisch. Vielen Mädchen wäre doch geholfen, wenn man Dornröschen anders erzählen würde.»

Die schier unmögliche Kind-Karriere-Koordination

Giulia Tonelli ist heute 39, als sie vor vier Jahren mit Kaehr drehte, hatte sie gerade ihren ersten Sohn geboren, hatte Schwangerschafts- und Mutterschaftsurlaub hinter sich und wollte nach elf Monaten Pause zurück auf die Bühne. Ihr Körper antwortet nach der Pause mit den grässlichsten Schmerzen. Doch Giulia ist glücklich. Tanzen ist ihre «Identität», ihr liebster Aggregatzustand, der «Boden» unter ihren Füssen, für viele andere ist die Karriere in diesem Alter bereits beendet, doch Giulia tanzt auch Mitte dreissig noch die Julia und erntet Standing Ovations.

«Becoming Giulia» mit Giulia Tonelli
Giulia Tonelli (Mitte), selbstvergessen bei einer Probe im Zürcher Opernhaus.Bild: First Hand Films

Ihr Mann, ein ETH-Ingenieur aus Österreich, hilft, wo er kann, ihre italienischen Eltern kommen ab und zu zum Hüten, der Vater arbeitet in Genf am Cern, aber der Grossteil der Kind-Karriere-Koordination bleibt an Giulia hängen. Es ist ein Spiessrutenlauf zwischen Kinderbetreuung mit zwei bis drei Nannys, ständig wechselnden Probeplänen und unumstösslichen Aufführungsdaten, sie will nicht die mit dem Kind sein, die jetzt immer zu spät kommt und Forderungen stellt, zu viele Leute wären davon mit abhängig. Und sie fragt sich, wie schnell ihre Karriere jetzt vorbei sein wird. Ob ihr Sohn sich überhaupt einmal noch an sie als Tänzerin erinnern wird.

Ein Körper wie ein Gedicht

Ihr Problem ist, dass sie erzählerische Ballette mehr liebt als abstrakte, dass eine Geschichte für sie ebenso wichtig ist wie die Akrobatik. Aber sie will und kann jetzt keine schwindsüchtigen Teenager mehr tanzen, und die komischen Rollen, die noch bleiben, mag sie nicht. Sie will neuen Stoff. Für eine Frau, die bald vierzig wird und sich ein Leben ohne Tanz nicht vorstellen kann. Sie setzt sich mit der britischen Choreografin Cathy Marston in Verbindung. Marston, erzählt Kaehr, hat schon viele Handlungsballette nach grossen Romanen und ihren Heldinnen gemacht, «Sturmhöhe», «Lolita», «Lady Chatterley».

«Becoming Giulia» mit Giulia Tonelli
Und hier bei einer Probe mit Cathy Marston. Das braune Tuch spielt ein Baby.Bild: First Hand Films

Mit Giulia Tonelli macht sie sich hinter Nathaniel Hawthornes «The Scarlett Letter», die Geschichte einer Frau, die ein uneheliches Kind zur Welt bringt und den Vater nicht bekanntgeben will (es ist der Pfarrer). Es ist grossartig, den beiden Frauen beim Proben zuzuschauen, jeder Mikropartikel einer Bewegung ist mit Erzählung gefüllt, alles muss seinen Sinn machen, damit am Ende ein Text zu einer getanzten Geschichte wird.

Es ist überhaupt grossartig, Giulia Tonelli beim Tanzen zuzuschauen, ihre Körperarbeit ist das pure Wunder, ihre Ausdruckskraft überragend, als wäre ihr Körper ständig am Reden, in einer Sprache, die sie allein erfunden hat und die doch alle sofort verstehen, als rezitierte sie sowas wie das mitreissendste Gedicht der Welt.

«Becoming Giulia» mit Giulia Tonelli
Kreative Verschwörung bei Burger mit Fritten: Marston und ihr Ingenieurs-Ehemann (links) und Tonelli, ebenfalls mit Ingenieurs-Ehemann. Gleich kommt ein massiver Sommersturm.Bild: First Hand Films

Auch die Kameramänner müssen tanzen

Dass sich dies auf der Leinwand vermittelt, ist auch das Werk von Kaehrs Kameramännern Felix Muralt und Stéphane Kuthy. «Ich habe sie zum ersten Mal in ihrem Leben in den Ballettunterricht geschickt», sagt Kaehr, «und sie stellten sich der Herausforderung mit Spass und Talent! Während sie Giulia auf der Bühne folgten, mussten sie mit ihr mittanzen, sonst hätten wir nie so nahe an ihr dran sein können. Ich mag es nicht, wenn man einen Film über Tanz macht und den Körper nicht fühlt. Ich will, dass das Publikum die ganze Kraft einer Bewegung spürt. Giulia fand, ich sei zu hart mit ihnen gewesen, sie hatte ständig Angst um die beiden.» Es hat sich gelohnt, am Zurich Film Festival gewannen Kaehr, Tonelli, die Kameramänner und alle anderen den Publikumspreis.

ZURICH, SWITZERLAND - OCTOBER 01: Director Laura Kaehr (L) and Giulia Tonelli (R) are seen during the Award Night Ceremony of the 18th Zurich Film Festival at Zurich Opera House on October 01, 2022 in ...
Laura Kaehr und Giulia Tonelli nehmen am 1. Oktober 2022 den Publikumspreis des Zurich Film Festivals entgegen.Bild: Getty Images Europe

Der Urgrossvater vom Monte Verità

Wie kommt eine Tänzerin eigentlich auf die Idee, Filmregisseurin zu werden? In Kaehrs Fall ist der Monte Verità daran schuld. Ihr Urgrossvater, der Gärtnermeister Friedrich Kähr aus Minusio, gehörte zur wilden Nackttanz-und-Vegetarier-Bohème auf dem Hügel bei Ascona. Er legte auf dem Monte einen «Friedensgarten» an und verfasste auch noch gleich eine «Friedensblumenoper».

«Er war ein militanter Friedensaktivist», sagt seine Urenkelin, «der es in den Vorwirren des Zweiten Weltkriegs nicht mehr schaffte, seine Oper auf eine Bühne zu bringen. Ich beschloss, sein Werk zu Ende zu führen und den familiären Kreis zu schliessen. Daraus wurde mein kurzer Dokfilm ‹1927›. Wenn man wie ich zwischen den beiden Filmstädten Locarno und Cannes, wo ich meine Ausbildung als Tänzerin machte, gross geworden ist, fühlt es sich ganz natürlich an, irgendwann zum Film zu gehen.»

Griedrich Kähr in seinem Friedensgarten.
Friedrich Kähr in seinem Friedensgarten.Bild: Laura Kaehr, Cat People Films GmbH

Das grösste Happy End

Kaehr hat ihre Berufung gefunden. Tonelli wird bei ihrer bleiben, sie hat sich durch- und über alle Hindernisse hinweggesetzt, ihre Geschichte ist eine der positivsten der Ballettwelt, die im letzten Jahr besonders durch Schlagzeilen über den strukturellen Sadismus an den wichtigsten Tanzschulen in Zürich und Basel und im Berner Ballett-Ensemble von sich reden machte. Und jetzt, 2023, geschieht auch noch, was beim Dreh des Films nicht bekannt war: Cathy Marston wird die neue Ballettchefin am Zürcher Opernhaus.

Die beiden Frauen werden dort gemeinsam viel Sehenswertes entwickeln, das steht fest, werden neue Wege gehen und neue Werke schaffen. Ein menstruierendes Dornröschen dürfte dabei eher Spekulation bleiben, aber der scharlachrote Buchstaben, der im Film erst als eine wunderbare Skizze zu sehen ist, hat gewiss gute Chancen, in Zürich zur Vollendung zu finden.

«Becoming Giulia» läuft ab dem 23. März im Kino. Bereits jetzt finden Premierenveranstaltungen mit Laura Kaehr statt, hier geht es zu den Special Screenings.

In der ursprünglichen Fassung dieses Textes hiess es, Jan Fabre sitze aktuell im Gefängnis. Das war so nicht korrekt.

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2 Kommentare
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M. mit Stil
19.03.2023 16:11registriert September 2022
Ja, Ballett ist wunderschön! Aber Spitzentanz widerspricht an sich schon der menschlichen Anatomie. Das war auch der Grund, warum ich aufgehört habe.
Den Film werde ich mir aber anschauen. Begrüssenswert, dass auch im Ballett die Missstände zum Thema werden und sich die Choreographen nicht mehr alles erlauben können.
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