Am Ende dieser Serie werdet ihr euch wohl fühlen. So erlöst und heiter wie selten. Denn obwohl wenige Folgen zuvor 99 Prozent der Menschheit einer radikal gründlichen Seuche zum Opfer gefallen sind, überlebt das Prinzip Hoffnung hier auf eine alles überstrahlende Art. «Station Eleven» tut gut. Und dürfte im Bereich der postapokalyptischen Unterhaltung das Ungewöhnlichste sein, was es bisher zu sehen gab.
Doch von vorn. 2012 beschliessen Emily (33) und Patrick (32), gemeinsam eine Lesung in Chicago durchzuführen. Beide haben Romane geschrieben, beide sind erfolglos, zur Lesung kommen ganze vier Leute. Zwei Jahre später geht es beiden wesentlich besser: Patrick Somerville schreibt Episoden für «24» und für die amerikanische Adaption der dänischen Thrillerserie «The Bridge». Und Emily St. John Mandels neuer Roman «Station Eleven» klettert die Bestsellerliste hoch. Irgendwann ist sie bei 1,5 Millionen verkauften Exemplaren, und das Buch soll zum Film werden, doch das Projekt scheitert.
Nach ein paar weiteren Jahren – Somerville hat gerade «Maniac» für Netflix kreiert und geschrieben und für ein paar Folgen bei «The Leftovers» gearbeitet – ergattert er die Rechte für ein Seriendrehbuch von «Station Eleven». Er ändert einiges, aber alles in Zusammenarbeit mit der Autorin. Und so entsteht etwas Magisches, das uns tausend Geschichten über die Bedürftigkeit und gleichzeitige Widerstandsfähigkeit der menschlichen Seele erzählt.
Aber noch einmal von vorn. «Station Eleven» beginnt mit einem Theaterabend in Chicago. Shakespeare. «King Lear». Und auf der Bühne stirbt Lear-Darsteller Arthur Leander (Gael García Bernal) an einem Herzinfarkt. Er ist die erloschene Sonne im Kreis von weiteren Figuren: Da ist seine Exfreundin Miranda (Danielle Deadwyler), eine Künstlerin, die einen Comicband über einen Astronauten, der an eine defekte Weltraumstation gefesselt ist, gezeichnet hat, der Band heisst «Station Eleven». Da ist die achtjährige Kirsten (Matilda Lawler), die sich als «Shakespeare-Schauspielerin» vorstellt, weil sie Lears Tochter Goneril als Kind spielen musste. Und da ist Jeevan (Himesh Patel), der zufälligerweise im Theater sass und versuchte, Arthur das Leben zu retten.
Kirsten liebt Mirandas Comic. Und Kirsten und Jeevan werden zu einer Schicksalsgemeinschaft, denn als sich die beiden zufälligerweise zusammen auf dem Heimweg finden, bricht in Chicago die Seuche los, und ihnen bleibt nur, sich mit Jeevans Bruder in einem Hochhausturm zu verbunkern. Draussen crashen Flugzeuge in die Skyline der Stadt und die Natur, der das Seuchentreiben nicht schadet, verwandelt Chicago allmählich in einen Dschungel.
In der Zwangsquarantäne leben die drei vom Geschichtenerzählen und Theaterspielen, Fiktion ist Eskapismus und Hoffnung in einem, ist Märchenerzählen und Lachen und Action in einer angehaltenen Welt. Bis auch diese – erneut während einer Theatervorstellung – von Gewalt und Tod heimgesucht wird, und der Turm unbewohnbar wird. Auf den Rückzug folgt das harte Überleben in der Wildnis.
Schliesslich gerät Kirsten an eine kuriose ältere Frau (Lori Petty, das «Tank Girl» aus den 90ern), die Dirigentin einer Theatertruppe, die Shakespeare spielend und musizierend übers Land zieht und unterwegs auf andere kleine Kommunen aus Überlebenden trifft. Ihr Name: The Traveling Symphony. Ihr Motto stammt aus «Star Trek: Voyager»: «Survival is insufficient.» Überleben allein genüg nicht.
Jahre später ist Kirsten (jetzt gespielt von Mackenzie Davis) die Chefin der Truppe. Sie spielen immer noch Shakespeare. «Hamlet», die Mona Lisa unter den Theaterstücken, ist der Publikumsliebling. Und Kirsten spielt den dänischen Prinzen mit einer wilden jungen Tiefe, die zu Tränen rührt.
«Station Eleven» ist eine grosse amerikanische Neubesiedelungs-Saga. Die Menschen werden in Pre-Pans und Post-Pans eingeteilt, die präpandemisch Geborenen haben noch eine Erinnerung an so seltsame Phänomene wie Internet, Fernsehen oder Luftfahrt. Die Post-Pans können sich nicht vorstellen, dass sowas überhaupt nötig ist. Das Vorher ist tot, lang lebe das Jetzt. Und dieses Jetzt ist ein herzig selbstgebasteltes Durcheinander voller Klein- und Kampfkunst-Hippies samt Sharing-Economy, Wahlverwandtschaften und Gurus.
Eine Gruppe verschanzt sich in einem aufgegebenen Flughafen (auf der Piste steht derweil jahrelang eine Maschine, deren Insassen allesamt an der Seuche gestorben sind) und nennt sich Museum of Civilization. Eine Kindergang sichert ihr Territorium mit Minen ab. Ein paar Frauen richten in einer alten Mall eine notdürftig ausgerüstete Geburtsklinik ein.
Sie alle eint ein Durst nach Gemeinschaft und nach Geschichten. Und weil Shakespeare und «Station Elven» die einzigen Erzählungen sind, die das Ende der Welt überstanden haben, dienen sie nun als kreative, literarische, emotionale, philosophische und soziologische Grundlage für den Umgang der Menschen miteinander. Sind der grösste Trost und die reichst gefüllte Schatztruhe.
Fiktion mit ihren Möglichkeiten und Spiegelungen von Realität wird hier zur Basis aller Zivilisations- und Kommunikations-Bestrebungen. Sie ist die Medizin, dank der die Menschen inmitten dystopischer Verwerfungen den Mut zur Utopie nicht verlieren.
Doch das grösste Wunder ist, mit welcher Leichtigkeit die Teams vor und hinter der Kamera von «Station Eleven» ein derart ambitioniertes Vorhaben samt multipler Metaebenen in eine packende Abenteuerserie implementieren. Das ist schon sehr, sehr grosse Kunst. Und nicht nur einfach noch mehr von jenem dringend nötigen Sofa-Eskapismus, der uns in den Pandemiejahren beim geistigen Überleben half. Sondern eine seltene und selten schön gemachte Preziose, die tagelang nachklingt. Und aus uns genau das macht, was Shakespeare und ein Comic aus den Bedürftigen in der Serie machen: grosszügig beschenkte, glücklichere Menschen.
«Station Eleven» läuft seit Mitte Januar auf Sky Show. Neue Folgen gibt es immer sonntags.
Ich kann dem wilden Durcheinander keinen Sinn abgewinnen und bitte um Erläuterungen in den Kommentaren.
Und in Anbetracht der aktuellen Zustände ist eine Pandemie-Serie nicht unbedingt mein Unterhaltungsprogramm der Wahl.
Tom&Jerry ist aktuell sehr unterhaltsam…