Es war ein sonniger Tag im Sommer, damals vor 25 Jahren, als Michael mit dem Pferd seiner Frau durch ein Parcoursgelände ritt. Auf einmal lief eine Bekannte von hinten vorbei und rief ihm laut zu. Das Pferd erschrak, rannte los und warf Michael ab. Kopfvoran prallte er in einen Holzzaun, blieb aber bei Bewusstsein. Als Erstes berührte er seine Beine - und spürte sie. «Statt Erleichterung kroch eine leise Enttäuschung in mir hoch», erinnert er sich. «Es wäre so eine einfache Gelegenheit gewesen, endlich querschnittgelähmt zu sein.»
Das erzählt der 53-Jährige in einem kleinen Bistro, gelegen am Ufer des Rheins. Vor ihm eine Crêpe mit Pesto, Tomaten, Mozzarella, die er im Rollstuhl sitzend verspeist, im «Rolli», wie er sein Gefährt nennt. Dann geht sein Blick nach unten, auf seine hageren Beine, die kaum Muskeln haben, weil er sie - obwohl völlig intakt - so wenig wie möglich braucht. «Ich sehe sie, ich spüre sie, aber ich will sie nicht», sagt er.
Michael leidet an der seltenen Störung namens Body Integrity Dysphoria, kurz BID, bei der bestimmte Körperteile oder –funktionen nicht zum Selbstbild passen. «Wie ein Stück Fleisch ohne Seele», beschreibt es Peter Brugger, emeritierter Professor für Verhaltensneurologie und Neuropsychiatrie an der Universität Zürich, der in seiner Karriere mehrere Dutzend Betroffene getroffen hat. Sie berichteten ihm, dass sie amputiert, gelähmt, blind, taub oder inkontinent sein möchten.
Von einem «Wunsch nach Behinderung» zu sprechen, ist aus Sicht der Betroffenen allerdings der falsche Ausdruck. Richtig formuliert ist es für sie nämlich ein «Wunsch nach Enthinderung» oder der Wunsch nach «intakter Körperintegrität», wie es Michael beschreibt.
Diese Sehnsucht beginnt meistens schon in der Kindheit oder frühen Jugend. «Der Leidensdruck der Betroffenen ist riesig, und wird immer grösser, je älter sie werden», so Brugger. Um so zu leben, wie es sich für sie richtig anfühlt, binden sich Betroffenen häufig ein Bein hoch, tragen stark verdunkelnde Linsen, nutzen Krücken oder einen Rollstuhl. «Pretender» nennen sie sich dann, wenn sie «so tun als ob».
Michael hat damit vor sieben Jahren begonnen. «Ich hatte schon immer so eine Art Brummen im Kopf, weil der Körper nicht mit dem gespeicherten Körperbild im Einklang ist. Irgendwann wurde es unerträglich und ich musste etwas tun»», erzählt er. Das war 2016 im Skiurlaub mit seiner Frau. Während einer Pause schauten sie Mono-Skifahrern zu, querschnittgelähmte Sportler, die in einem Mono-Skibob sitzend auf einem Ski die Piste hinunterglitten. «Ich habe meiner Frau gesagt, dass mich das auch reizen würde», erinnert sich Michael. Und dann erzählte er ihr alles.
Natürlich, es habe viele Diskussionen gegeben und die gebe es noch immer. «Aber sie hat mich nie verurteilt, sondern das alles schnell akzeptiert und mich von Anfang an unterstützt.» So bestellte Michael noch während des Urlaubs einen Rollstuhl im Internet. Als er sich zurück zu Hause hineinsetzte, fühlte er sich endlich angekommen: «Das Hämmern im Kopf war weg.»
Zu Beginn kurvte er im Rollstuhl nur in den eigenen vier Wänden herum, dann traute er sich bei Dämmerung auf die Quartierstrassen. Und nun, seit 2018, bewegt er sich nur noch im Rollstuhl - und fühlt sich zufriedener denn je. Das Wohnhaus haben er und seine Frau nach und nach rollstuhlgängig umgebaut - auf eigene Kosten.
Die Reaktionen in der Familie und im Freundeskreis waren unterschiedlich, manche wandten sich ab, andere akzeptierten den «neuen Michi».
Speziell ist die Situation für ihn auch mit seinen Handbike-Kollegen, mit denen Michael seine Leidenschaft für den Sport auslebt. Mit Menschen also, die unfreiwillig querschnittgelähmt sind. Er räumt ein, dass manche Handbiker sich nicht mit ihm abgeben möchten, weil sie mit seiner Geschichte nicht klarkämen. Mit vielen anderen aber unternimmt er regelmässig Ausfahrten mit vielen schönen Momenten.
Bei der Arbeit bekam er die Möglichkeit, vom Aussendienst ins Büro zu wechseln. «Ich habe zu jeder Zeit gearbeitet, immer 100 Prozent, seit einigen Jahren einfach im Rolli.» Das ist Michael wichtig zu betonen.
So offen wie er gehen nicht alle mit ihrer Störung um, weshalb es schwierig ist, abzuschätzen, wie verbreitet BID ist. Die meisten halten ihren Wunsch nach Behinderung aus Scham für sich. Sie sind sich bewusst, dass es verrückt und skurril klingt. Und dass das, was sie fasziniert, für die meisten Menschen das Schlimmste ist, was ihnen passieren könnte. Das unterscheidet BID-Betroffene von Personen mit psychotischen Störungen wie Schizophrenie, die sich in Phasen von Wahnvorstellungen ihrer Krankheit nicht bewusst sind. «Abgesehen von ihrem Amputationswunsch sind BID-Patienten gesund und klinisch unauffällig», sagt Brugger.
Im Internet tauschen sich Betroffene aus, beispielsweise im «BID DACH Forum», dem deutschsprachigen Forum für BID-Betroffene. Sie nennen sich dort «Augenlos», «Holzbein62», «Humpelstilzchen», «onearmdreamer» und «wheelchair830». Manche Beiträge schockieren, etwa wenn ein Forumsteilnehmer schildert: «Der Amputationswunsch schädigt meine Psyche, der Drang danach ist verdammt gross. Dieser Drang zwang mich dazu, mein Bein abzubinden, damit es abstirbt. Ich habe mir Wunden zugefügt und mit Dreck übersät, damit ich eine Blutvergiftung bekomme.»
Solche lebensgefährlichen Verzweiflungstaten sind aus der wissenschaftlichen Literatur bekannt: Fälle von Betroffenen, die keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich ihrem ungewollten Körperteil mit einer selbst gebauten Guillotine, einer Kettensäge, dem Einfrieren der Gliedmasse in Trockeneis oder etwas Vergleichbarem zu entledigen versuchen. Vor einigen Jahren schockierte die Amerikanerin Jewel Shuping in einem Youtube-Video die Öffentlichkeit, als sie erzählte, sie habe ihr Augenlicht mit Abflussreiniger zerstört.
Wer genug Geld hat, kann sich auch für eine Reise nach Asien entscheiden, wo Ärzte gegen ein entsprechendes Gutachten solche Operationen durchführen.
Der deutsche Psychologe Erich Kasten, neben Brugger einer der wichtigsten Forscher auf dem Gebiet von BID, untersuchte in einer Studie, ob BID-Betroffene mit erfülltem Wunsch nach Behinderung auf Dauer zufrieden sind. Daran teilgenommen haben 21 Personen, unter anderem eine 43-jährige Frau, deren linker Arm unterhalb des Ellbogens in einer OP entfernt wurde, ein 41-Jähriger, der sich beide Beine und einen Arm von seinem Freund abtrennen liess, und ein 38-Jähriger, der sich selbst das rechte Bein oberhalb des Knies amputierte.
Die Einschränkungen im Alltag nach der Amputation wurden von allen Studienteilnehmenden als erträglich eingeschätzt und nicht vergleichbar mit dem Leiden, das sie vorher ertragen mussten.
Derzeit scheint es, als dass der erfüllte Behinderungswunsch für viele Betroffene die einzige Lösung ist, die nachhaltig Besserung verschafft. Denn Studien zeigen, dass Psychotherapien, Pharmazeutika, elektrische Hirnstimulation oder Hypnosen kaum etwas bewirken.
Dieser Umstand öffnet die ethisch-rechtliche Frage, ob es denn ein Recht auf Behinderung gibt. «Jeder Mensch hat das Recht, frei über den eigenen Körper zu verfügen», sagt David Schneider, der an der Schnittstelle von Recht, Medizin und Ethik an der Universität Zürich forscht. Dieses Recht, das Selbstbestimmungsrecht, sei in der Bundesverfassung verankert. «Also kann sich jemand durchaus entscheiden, den eigenen Körper so zu beeinträchtigen, dass es zu einer Behinderung führt.»
Komplexer werde es dann, wenn dieses Selbstbestimmungsrecht nicht völlig autonom ausgeübt werden könnte und es medizinische Hilfe brauche. «Weil es sich nicht um eine Notfallsituation handelt, können die Ärzte die Behandlung verweigern», sagt Schneider.
Findet man einen willigen Arzt, mache der sich grundsätzlich nicht straf- oder haftbar, wenn es sich bei einer Amputation um eine legitime, evidenzbasierte Behandlungsmethode handelt. Aber: «Der Arzt muss den Patienten vorher über alle Risiken und Folgen der Behandlung aufklären. Dazu gehört auch, dass man nicht nur die Amputation als radikalste Option mit irreversiblen Konsequenzen thematisiert, sondern gemeinsam mit dem Patienten alle zur Verfügung stehenden Alternativen auslotet», so Schneider.
Ausserdem fügt er hinzu, dass zum Recht auf Selbstbestimmung auch die Bereitschaft gehöre, die Konsequenzen seiner Entscheidung zu tragen. Dem Sozialstaat seien Schicksale wie jene der BID-Betroffenen natürlich nicht gleichgültig. Ob aber ein Anspruch auf staatliche Unterstützung wie etwa aus einer Sozialversicherung bestehe, müsste im Einzelfall untersucht werden.
Gianluca Saetta ist Neurowissenschafter an der Universität Zürich und klinischer Psychologe in der Rehaklinik Seewis. Seine Doktorarbeit absolvierte er bei Peter Brugger und beschäftigt sich seither mit BID. Derzeit prüft er und sein Team eine Methode, die auf virtueller Realität (VR) basiert und Betroffene darin unterstützen soll, mit ihrem Wunsch nach Behinderung umzugehen.
Dabei werden die als fremd empfundenen Gliedmassen virtuell amputiert. Mit einer VR-Brille können die Patienten sich ganz natürlich in ihrer Umgebung bewegen, schauen sie an sich herunter, fehlt jedoch das unliebsame Bein. In einer früheren Pilotstudie aus den Niederlanden mit zwei Betroffenen sprach einer davon, dass es «emotional überwältigend» sei, sich endlich so zu sehen. Der andere berichtete auch noch einige Tage nach dem Test von einer Verringerung seiner Symptome.
Saetta und seine Kollegen haben eine grössere VR-Studie mit zwanzig Teilnehmern soeben abgeschlossen. Sie wurde noch nicht publiziert und wird nun von unabhängigen Experten geprüft. Deshalb möchte Saetta noch nicht zu viel über die Ergebnisse erzählen, nur so viel: «Die Resultate sind sehr vielversprechend.»
Lange Zeit galt die gestörte Körperwahrnehmung als ein Fetisch, eine sexuelle Neigung. Doch in einer im Fachblatt «Current Biology» publizierten Studie mit 16 Männern mit Amputationswunsch fanden die Neurowissenschafter Saetta und Brugger mit Hirnscans heraus, dass die Störung ein neurologisches Abbild hat, sich also in der Struktur und Funktion des Gehirns manifestiert. «Bei den Betroffenen passt nicht zusammen, wie das Gehirn den eigenen Körper wahrnimmt und was das Spiegelbild zeigt», erklärt Saetta.
Ob die veränderte Hirnanatomie angeboren ist oder sie erst entsteht durch die langjährige Fokussierung auf den ungewollten Körperteil, wissen die Forscher allerdings noch nicht. Unklar ist auch, ob die Störung eine genetische Komponente besitzt.
Im Januar 2022 wurde BID erstmals in die neue Version der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) aufgenommen, definiert als ein intensives und anhaltendes Verlangen körperlicher Beeinträchtigung. Das Klassifikationssystem ICD der Weltgesundheitsorganisation WHO wird weltweit genutzt, um zu bestimmen, was als Krankheit gilt, wie diese definiert wird und wie sie sich von anderen Diagnosen abgrenzt.
«Das ist eine wichtige Anerkennung für Betroffene», sagt der Neuropsychologe Brugger. Nun handle es sich offiziell nicht einfach nur mehr um eine blosse Macke. Fraglich für ihn ist jedoch, ob BID langfristig wirklich als Störung oder Krankheit behandelt werden sollte. «Womöglich müssen wir von dem Gedanken wegkommen, BID heilen zu wollen», sagt Brugger. «Früher wollte man Homosexualität und Transsexualität heilen. Und heute ist jedem klar, dass diese Menschen keine Heilung brauchen, sondern einzig die Akzeptanz der Gesellschaft.»
Von Akzeptanz spricht auch Michael immer wieder: «Ich habe mir das alles nicht ausgesucht», sagt er. Auch wenn er es bedauerlich findet, dass manche damit nicht klarkämen und nur noch den Rollstuhl und nicht mehr den Menschen in ihm sähen, habe das alles sein Gutes: «Heute weiss ich, wer meine richtigen Freunde sind.» (aargauerzeitung.ch)
eliminieren, Wenn durchgeführt wird die IV und sonstige Zuschüsse angefordert, leben zufrieden bis zum Lebensende....?
Ich als unfallbedingter Beinamputierter schüttle den Kopf und denke was für hirnverbrennte Idee/Leute.
Je älter du wirst, je eher bist Du auf Hilfe angewiesen wenn Dir ein Bein fehlt wie bei mir, nicht mehr alleine baden gehen, gewisse Sporttätikeiten nada, Partner immer unter Schuss, lebenslange Kontrolle der Prothesen.
Ich sage: EGOISMUS pur.
Die Akteptanz der Gesellschaft hat aber bei allem Grenzen. Klar leben wir in einer Industriegesellschaft in der nur noch wenige Menschen körperlich arbeiten müssen, aber ich kann es schwer nachvollziehen dass sich jemand den Körper versehrt und dann von der Gesellschaft zu erwarten die erhöhte Last durch die Behinderung zu kompensieren.