Schweiz

Opferzahl nach Todes-Lawine in Dolomiten steigt

Opferzahl nach tödlicher Lawine in Dolomiten steigt – Bergung kann noch Wochen dauern

Am Sonntagabend kam es in den Dolomiten zu einem massiven Gletscherbruch, der mindestens sieben Menschen in den Tod gerissen hat. Die Suche nach Vermissten dauert auch am Dienstag noch an.
04.07.2022, 15:4805.07.2022, 09:31
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Mindestens sieben Tote

Eine gespenstische Stille legt sich über die Marmolata. Am Tag nach der Gletscherkatastrophe mit mindestens sieben Toten und vielen Vermissten fliegen nur noch vereinzelt Helikopter an die Flanke des mächtigen Dolomitenmassivs.

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Auf Fotos ist der abgebrochene Teil des Gletschers gut ersichtlich.Bild: keystone

Ein nahendes Gewitter verdunkelt den Himmel, die letzten Suchtrupps mit ihren Drohnen ziehen am Montagmittag vorerst ab. Die Gefahr weiterer Gletscher- oder Felsstürze ist zu gross. Es donnert. Regen geht nieder auf den Unglücksberg in Norditalien und den Lawinenkegel aus Eis, Schnee und Steinen, unter dem mehr als ein Dutzend Tote befürchtet werden.

Es könne Wochen oder sogar noch länger dauern, bis alle Toten am Hang des Marmolata-Massivs gefunden und geborgen werden. Das sagte Maurizio Dellantonio, der Präsident der italienischen Bergrettung, am Montag. Er erklärte, dass nach dem Gletscherbruch riesige Mengen an Eis und Gestein in Fels- und Gletscherspalten gerutscht seien.

Die Felsspalten sollten noch im Sommer freigelegt werden, auch dank des schmelzenden Eises, sagte er voraus.«Falls aber jemand im oberen Bereich des Berges in Gletscherspalten gestürzt ist, dann wird es schwierig», sagte Dellantonio.

Weil die Gefahr besteht, dass sich weitere Eisbrocken lösen und abstürzen, dürfen vorerst keine Retter mehr die Flanke des Berges betreten. Mit Drohnen wird nach Leichen und Material gesucht. Das Eis sei teilweise bis zu zehn Meter dick, sagte der Bergretter. Deshalb sei die Lokalisierung und Bergung der Leichen so schwierig.

Halter der geparkten Autos überprüft

Die Polizei überprüft die Halter der im Schatten des höchsten Berges der Dolomiten geparkten Autos auf der Suche nach Vermissten. Am Montag wurde dann eine weitere Leiche entdeckt, wie die Polizei in Trient bestätigte. Damit stieg die Zahl der Todesopfer auf sieben.

Die italienischen Rettungskräfte suchen noch nach mindestens 14 Vermissten. Angehörige hätten diese den Behörden gemeldet, weil sie keine Nachrichten mehr von ihnen erhielten.

Das erklärte der Regionalpräsident von Trentino-Südtirol, Maurizio Fugatti, am Montag in Canazei am Fusse des Berges Marmolata, an dem Massen aus Eis und Geröll mehrere Bergsteiger am Sonntag verschüttet hatten. Acht Menschen wurden laut Fugatti verletzt.

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Ein Helikopter fliegt über die Marmolata.Bild: keystone

Die Such- und Rettungsarbeiten am mehr als 3340 Meter hohen Berg auf der Grenze der Regionen Trentino-Südtirol und Venetien mussten wegen des schlechten Wetters unterbrochen werden. Ohnehin schickten die Einsatzkräfte keine Leute mehr direkt auf den Lawinenkegel, weil sie befürchteten, dass weitere Gletscherstücke wegbrechen könnten. Ein Brocken von 200 Metern Breite, 60 Metern Höhe und 80 Metern Tiefe hänge gefährlich über dem Abhang, teilte der Zivilschutz mit.

Keine Chance mehr auf Überlebende

Bevor sie wegen des Schlechtwetters vom Gletscher abgezogen wurden, lokalisierten die Drohnen am Vormittag Leichenteile und Material wie Seile und Rucksäcke, sagte Alex Barattin von der Bergrettung Belluno.

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Rettunskräfte am Fusse der Marmolata.Bild: keystone

Es gebe aber praktisch keine Chance mehr, noch Überlebende unter den Eis- und Geröllmassen zu finden. Vielmehr dürfte nach Einschätzung der Bergungsteams die Identifizierung der Leichen schwierig werden in Anbetracht der Kräfte, mit der die Lawine die Leute erwischt hatte.

Draghi will sich Bild von der Lage machen

Für die Mittagszeit hatte sich Italiens Ministerpräsident Mario Draghi im Lagezentrum der Einsatzkräfte in dem Ort Canazei angekündigt, musste seine Anreise per Helikopter wegen des schlechten Wetters aber abbrechen. Er stieg stattdessen auf ein Auto um. Der 74 Jahre alte Regierungschef wollte sich mit dem Chef des Zivilschutzes über die aktuelle Situation informieren. In Canazei trafen am Montag erste Verwandte von Vermissten ein, um nach Informationen zu ihren Angehörigen zu fragen und die geborgenen Toten zu identifizieren. Auch eine Servicenummer für Angehörige wurde eingerichtet.

Staatschef Sergio Mattarella telefonierte mit den Präsidenten der beiden Regionen, um seine Anteilnahme auszudrücken, wie sein Amtssitz mitteilte. Auch andere Politiker drückten ihre Anteilnahme aus.

Papst Franziskus betete für die Opfer. «Die Tragödien, die wir gerade mit dem Klimawandel erleben, müssen uns dazu drängen, dringend neue menschen- und naturbewusste Wege zu finden», forderte das 85 Jahre alte Oberhaupt der katholischen Kirche bei Twitter.

Nach Einschätzung von Klimaexperten und Gletscherforschern ist das Unglück auch auf die steigenden Temperaturen zurückzuführen. Diese lassen die Gletscher immer weiter schmelzen und bröckeln; wegen des geringen Niederschlags in diesem Winter fehlte Schnee, der den Gletscher zusätzlich vor der Sonne hätte schützen können.

Extrembergsteiger nicht überrascht

Auch der Extrembergsteiger Reinhold Messner hat eine Erklärung für das Unglück und war nicht überrascht. «Der Hauptgrund ist die Erderwärmung und der Klimawandel. Diese fressen die Gletscher weg», sagte der 77-Jährige der dpa. Just an den Abbruchkanten bilden sich dann sogenannte Eistürme - Séracs genannt - «die so gross sein können wie Wolkenkratzer oder Häuserzeilen», erklärte Messner.

Der Südtiroler, der als erster Alpinist alle 14 Achttausender der Welt bestiegen hatte, kennt Séracs etwa aus dem Himalaya. Er mahnt, Touren auf Eis nur mit Bergführer zu machen. Doch selbst das ist keine Sicherheitsgarantie; nach Medienberichten gehören auch Bergführer zu den Vermissten nach der Dolomiten-Katastrophe.

Vorfälle wie an der Marmolata «werden wir häufiger sehen», meinte Messner. «Heute gibt es viel mehr Fels- und Eisabbrüche als früher.»

«Die globale Erwärmung kommt aus den Ballungszentren und Städten, von den Autobahnen und Fabriken», sagte Messner. «Aber wir in den Bergen merken sie, schon seit 30 Jahren sehen wir mit blossem Auge, wie die Gletscher schmelzen. Dazu muss man kein Wissenschaftler sein.» (saw/sda/dpa)

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