Eine Patientin liess sich von einem Aargauer Psychiater wegen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit therapieren. Der Psychiater verordnete eine Therapie mit Körperkontakten, die er laufend steigerte. Er verging sich jahrelang an der Patientin. Diese zeigte den Psychiater an. Er wurde wegen mehrfacher Ausnützung einer Notlage verurteilt. Die Berufsausübungsbewilligung wurde dem Arzt nicht entzogen, er durfte aber zwei Jahre lang keine Patientinnen behandeln (die AZ berichtete).
Der Aargauische Ärzteverband hatte damals aus den Medien vom Fall erfahren und die Standeskommission eingeschaltet. Diese prüft, ob Mitglieder gegen das Reglement der Ärztevereinigung FMH verstossen haben. In der Standesordnung heisst es klar, das Abhängigkeitsverhältnis dürfe «weder emotionell oder sexuell noch materiell ausgenützt werden». Der Ärzteverband hat die Möglichkeit, fehlbaren Ärzten die Mitgliedschaft zu entziehen. «Das ist das Maximum, was wir tun können. Es ist aber nicht wenig, denn wer nicht FMH-Mitglied ist, hat es in der Schweiz sehr schwer, eine Berufsausübungsbewilligung zu halten», sagte Jürg Lareida, Präsident des Aargauischen Ärzteverbandes, im Februar 2019 zur AZ.
Inzwischen ist klar, dass der Psychiater nicht aus dem Verband ausgeschlossen wird, wie die «Sonntagszeitung» in ihrer aktuellen Ausgabe berichtete. Die Standeskommission kommt zwar zum Schluss, dass der Psychiater die Regeln «in krasser Weise» verletzt habe, verhängte aber keinen Ausschluss.
Jürg Lareida, der selber nicht Teil der Standeskommission war, die den Fall beurteilte, sagt: «Ich habe in den letzten Monaten zunehmend realisiert, dass ein Verbandsausschluss durchaus auch negative Seiten haben kann.» Ein Ausschluss sei «leider keine wirkungsvolle Strafe mehr». Vor zehn Jahren habe die FMH die Verleihung der Facharzttitel auf Druck des Bundes ausgliedern müssen. «Um über einen Facharzttitel zu verfügen, ist seit diesem Zeitpunkt keine FMH-Mitgliedschaft mehr nötig», sagt er.
Dies habe zur Folge, dass ein Ausschluss aus dem Berufsverband den Verlust des Facharzttitels nicht mehr automatisch nach sich ziehe. Der Arzt kann also weiterarbeiten, wenn ihm der Kanton die Berufsausübungsbewilligung weiterhin erteilt. Das ist im Fall des Aargauer Psychiaters so. Deshalb sagt Lareida: «Der Verbandsausschluss ist also ohne Folge und führt sogar dazu, dass die Standesordnung nicht mehr direkt angewendet werden kann.» In diesem Sinn sei denn auch der Entscheid der Standeskommission nachvollziehbar: «Ein Verbleib im Verband bedeutet ein Ja zur Standesordnung», sagt Lareida. Der oberste Aargauer Arzt spricht im Fall des Psychiaters von einem «weisen Entscheid», der einem «sehr harten Urteil» entspreche.
Aber sind denn überhaupt schon Aargauer Ärztinnen oder Ärzte ausgeschlossen worden, wenn es für einen Ausschluss nicht genügt, dass ein Psychiater die Notlage einer Patientin mehrfach ausgenutzt hat? «Ja», sagt Lareida. «Wir haben bereits diverse Ärzte ausgeschlossen, aber in der Regel solche, die keine Berufsausübungsbewilligung mehr haben oder nicht mehr auffindbar sind.»
Die «Sonntagszeitung» kritisiert, bei den Untersuchungen der Standeskommissionen handle es sich um eine «undurchsichtige Paralleljustiz». Lareida winkt ab. Die Standeskommission sei kein öffentliches Organ. Es gebe einen Entscheid und dieser werde kommuniziert. «Der Vergleich zu Gerichten ist naheliegend», sagt er. «Ein Richter kommentiert seinen Entscheid auch nicht in der Zeitung.»
Ein weiterer Punkt ist, dass sich Ärztinnen und Ärzte untereinander kennen. Wie soll also eine Kommission, zusammengesetzt aus Ärztinnen und Ärzten aus dem Aargau, den Fall eines Berufskollegen beurteilen, ohne befangen zu sein? Um der Befangenheit entgegenzuwirken, sei die Standeskommission vor drei Jahren professionalisiert und die Mitgliederzahl vergrössert worden, sagt Lareida. «Die Kommission wird je nach Fall so zusammengesetzt, dass die Mitglieder der Kommission nicht befangen sind.» (aargauerzeitung.ch)