Der Vorgang ist unfassbar. Seit 16 Monaten steht der ehemalige Tessiner FDP-Ständerat und Sonderermittler des Europarats Dick Marty (77) unter zeitweise massivstem Personenschutz. Während viereinhalb Monaten schützten bis auf die Zähne bewaffnete Sondereinheiten das Haus von Marty im Tessin. Sie bezogen im Untergeschoss von Martys Haus Quartier, ausgerüstet mit Maschinengewehren und Granaten.
Auslöser der Aktion war eine Meldung, die der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) im Dezember 2020 von einer Quelle erhalten hatte: Marty sollte von Auftragskillern ermordet werden, das Kommando, das aus Angehörigen der Unterwelt bestand, war offenbar bereits bestellt.
Den Vorgang machte die Sendung «Mise au Point» des Westschweizer Fernsehens TSR publik. TSR zitierte im Beitrag vom Sonntag Dokumente aus der Bundesanwaltschaft: «Es soll sich um absolute Profis handeln, die Morde begehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Für das geplante Attentat soll ein Serbe im Dezember 2020 Waffen in die Schweiz eingeführt haben.» Es soll sich um Auftragsmörder handeln, die vom serbischen Geheimdienst ausgebildet worden waren.
Das Fernsehen war offenbar auf den Fall aufmerksam geworden, als Marty an einem Anlass mit Personenschützern erschien. Noch heute steht Marty unter Polizeischutz, er verlässt das Haus nur mit kugelsicherer Weste, begleitet von zwei Fahrzeugen mit Sicherheitskräften: Eines vor, eines hinter seinem eigenen Wagen.
Im Beitrag des Westschweizer Fernsehens sagte Marty, den CH Media am Montag nicht erreichen konnte, sein erster Gedanke sei gewesen, dass Kreise aus Kosovo hinter den Mordplänen standen. Denn im Sommer 2020 war gegen den ehemaligen UCK-Führer und Ministerpräsidenten des Kosovo, Hacim Thaci, in Den Haag Anklage wegen Kriegsverbrechen erhoben worden; er soll für etwa 100 Morde verantwortlich sein.
Marti hatte 2010 als Sonderermittler des Europarats Verbrechen im Kosovokrieg untersucht und schwere Vorwürfe gegen Thaci erhoben. Es ging unter anderem um Organ- und Drogenhandel. Thaci hatte Marty darauf mit Goebbels verglichen. Aber es habe sich herausgestellt, so Marty, dass die Bedrohung nicht aus Kosovo, sondern von «gewissen Milieus der serbischen Geheimdienste kam, die professionellen Killern aus der Unterwelt den Auftrag gaben, mich zu liquidieren.»
Einer, der in den letzten Monaten in Kontakt mit Dick Marty war, ist Franco Cavalli, Arzt und ehemaliger Fraktionschef der SP im Bundeshaus. Er sagt: «Die Situation ist komplex. Es soll sich um extremistische serbische Geheimdienstleute handeln, die das Attentat dem Kosovo in die Schuhe schieben wollten. Zeitlicher Auslöser dürfte gewesen sein, dass Hacim Thaci im Juni 2020 wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurde.» Thaci habe also Grund, Marty zu hassen.
Aber es gibt eine ganze andere Komponente im Fall. Cavalli sagt: «Dick Marty hat lange gehofft, dass die offizielle Schweiz etwas unternimmt. Dass die Schweizer Justiz und die Regierung in Belgrad vorstellig werden, um sich für die Aufklärung der Affäre einzusetzen und dafür, dass die Drahtzieher ermittelt und zur Rechenschaft gezogen werden.» Aber bisher sei die Schweiz aus diplomatischen Gründen offenbar nicht wirklich aktiv geworden, und man frage sich natürlich, weshalb nicht.
Der ehemalige SP-Nationalrat Cavalli erinnert auch daran, dass die Schweizer Behörden wenig Freude an den unerschrockenen internationalen Ermittlungen von Dick Marty zeigten. «Die offizielle Schweiz hat Marty bei seinen internationalen Untersuchungen zu Kosovo oder auch zu den CIA-Gefängnissen nie wirklich unterstützt», sagt Cavalli. «Er sagte einmal, er verstehe, dass die polnische Regierung ihn nicht unterstütze, wenn er in ihrem Land CIA-Geheimgefängnisse suche. Was er aber nicht verstehe, dass ihn auch die Schweiz nicht unterstütze.» Seine Ermittlungen hatten ergeben, dass die CIA auch in Europa Menschen verschleppte und in geheimen Gefängnissen folterte.
Der Bundesrat, auch die damalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey (SP), spielte die Affäre der CIA-Geheimgefängnisse in Europa herunter. Es gebe keine Beweise, nur Indizien, sagte Calmy-Rey 2006 und widersprach Marty. Und der damalige FDP-Bundesrat Pascal Couchepin sagte laut Swissinfo: «Die Schweiz verteidigt moralische Prinzipien, ist aber nicht der Heilige Stuhl für Menschenrechte.»
Auch heute sind gewisse politische Rücksichtnahmen denkbar. Cavalli sagt: «Tatsache ist, dass Serbien zu Helvetistan gehört, dem von der Schweiz gegründeten Stimmrechtsverbund im Internationalen Währungsfonds. Es gibt die Überlegung, dass die Schweiz nicht voll aktiv wird, weil sie die Unterstützung Serbiens nicht verlieren will.»
Der ehemalige Tessiner Staatsanwalt Dick Marty, der in dieser Funktion entschlossen und mit Undercover-Agenten gegen die Mafia vorging, erhofft sich offensichtlich einen grösseren Einsatz aus Bern. Laut TSR passierte nach der durch den Bundesrat autorisierten Eröffnung eines Strafverfahrens in letzten August «nicht viel». So schrieb Marty im Februar einen Brief an die Bundespolizei, mit Kopie an die Bundesanwaltschaft. «Ich schrieb ihnen», so Marty im TV-Beitrag, «so kann es nicht weitergehen, man darf sich nicht auf den Schutz der Ziels beschränken, ohne eine Strategie zum Ausschalten der Bedrohung zu haben.»
Martys Vertrauter Franco Cavalli sagt: «Dick Marty verliert langsam die Geduld, er ist sehr dankbar für den Schutz, den er erhält, aber er möchte nicht noch 20 Jahre in seinem Gefängnis leben.»
Die Bundesanwaltschaft hält auf Anfrage fest, dass die zuständigen Schweizer Behörden «in Kontakt mit den serbischen Behörden» stünden. Insbesondere sei durch das Bundesamt für Polizei Fedpol, in enger Zusammenarbeit mit der BA, auf polizeilicher Ebene ein Informationsaustausch mit den serbischen Polizeibehörden in Gang gesetzt» worden. Das sei Teil eines umfassenden Massnahmendispositivs.
Die BA bestätigt im übrigen, «dass ab Dezember 2020 von einer ernstzunehmenden Bedrohungssituation gegen Herrn Dick Marty ausgegangen werden musste.» Der Fall beinhalte nebst strafrechtlichen Aspekten insbesondere auch die Gewährleistung der Personensicherheit und weise aufgrund des mutmasslich länderübergreifenden Kontextes auch politische Komponenten auf. Deshalb seien diverse Stellen auf Stufe Bund und Kanton in ihren jeweiligen Zuständigkeiten involviert. Durch die Bundesanwaltschaft, das Bundesamt für Polizei Fedpol und die weiteren Partnerbehörden sei in diesem Zusammenhang das «umfassende Massnahmendispositiv aufgezogen» worden.
Die BA bestätigt auch, dass, in Zusammenarbeit mit den Kantonspolizeien, das unmittelbare Umfeld von Marty gesichert werden, etwa durch Nahschutz bei Auftritten im öffentlichen Raum oder durch technische Schutzmassnahmen am Domizil. «Die Sicherheits- und Schutzmassnahmen werden nach wie vor aufrechterhalten, weshalb – um deren Wirksamkeit nicht unnötig zu beeinträchtigen – hierzu keine Einzelheiten bekannt gegeben werden», hält die Bundesanwaltschaft fest.
Das Aussendepartement EDA von Bundespräsident Ignazio Cassis (FDP) hält auf Anfrage fest: «Das EDA nimmt diese Affäre sehr ernst und steht in engem Kontakt mit der Bundesanwaltschaft und Fedpol, den zuständigen Behörden. Die Drohungen gegen Herrn Marty sind inakzeptabel.» Die schweizerischen und serbischen Behörden stünden in Kontakt in dieser Sache. Angesichts der Sensibilität dieser Falls könnten keine weiteren Angaben gemacht werden.
Empört zeigt sich der serbische Geheimdienst. Auf Anfrage hielt die serbische Botschaft in Bern am Montag fest, der serbische Sicherheits- und Informationsdienst BIA habe dem Nachrichtendienst des Bundes (NDB) einen Protestbrief zugestellt. Darin werden, wie der serbische Botschafter in Bern, Goran Bradic, ausführt, «die maliziösen Informationen über die angebliche Verstrickung der serbischen Geheimdienste in Mordpläne auf Schärfste verurteilt und dementiert». In dem Brief stehe, dass «solche Behauptungen in diesen schwierigen Zeiten» dem Ansehen der Republik Serbien, dem Serbischen Sicherheitsdienst (BIA) und dessen Angehörigen zu, die ihre Arbeit professionell und gesetzestreu ausübten, schweren Schaden zufügten. Der BIA werde «trotz dem Druck und den Destabilisierungsversuchen weiterhin an der Wahrung des Friedens und der Stabilität in der Republik Serbien» arbeiten.
Der Schweizer Nachrichtendienst NDB wollte sich auf Anfrage nicht zur Angelegenheit und zum serbischen Protestbrief äussern.
Das Bundesamt für Polizei Fedpol sagt zur Frage, ob in den letzten Jahren ähnlich schwerwiegende Fälle zu verzeichnen waren: «Es gab in der näheren Vergangenheit vereinzelte Fälle von Drohungen gegen Schutzpersonen von Fedpol, die ebenfalls ein umfangreiches Sicherheitsdispositiv nach sich zogen. Glücklicherweise ist aber ein Fall vom Umfang wie jener von Herrn Marty sehr selten.»
Cavalli macht sich derweil Sorgen um Marty. Dieser sei ein eher introvertierter Mensch, er spreche nicht gerne und viel über sich, aber die Situation belaste ihn sehr. «Ich habe ihn als Arzt und Freund etwas begleitet in den letzten Monaten», sagt Cavalli. «In den letzten 16 Monaten ist Dick Marty um zehn Jahre gealtert.» (aargauerzeitung.ch)
wen wundert's.....!? del pontes aktivitäten wurden ja auch mehr geduldet als geliebt. mit allem, was rückgrat und klare haltung verlangt, tut sich männiglich schwer in diesen landen, man ist eben neutral....