«Grüezi, Grüezi, haben Sie diese Ausgabe schon?», fragt Seynab Ali. Sie steht vor der Migros im Zentrum Witikon und hält einer alten Frau ein Surprise-Heftchen hin. Die Frau lacht hinter ihrem Einkaufswagen und antwortet: «Natürlich, Seynab.» «Siehst du, ich habe viele Schweizer Freunde» entgegnet Seynab Ali Isse (53), krempelt ihre rote Surprise-Jacke hoch und streicht ihr buntes Kopftuch zurecht. Es ist ein kalter, sonniger Wintertag. Seynab steht um Punkt 9 Uhr vor der Migros im Zentrum Witikon, einer ihrer drei Verkaufsstandorte für Surprise. Sie steht zwischen ihrem Verkaufswagen, vollgestopft mit Magazinen, und den ausgestellten Blumen der Migros.
Wenn Seynab mit den Leuten spricht, berührt sie sie oft. Meistens am linken Unterarm. Sie tut es nicht aufdringlich, sondern warmherzig. Und sie hat stets ein Lächeln im Gesicht. Seynabs Augen sind tiefbraun. In ihnen liegt ein freundlicher Ausdruck. Das täuscht darüber hinweg, wie viel sie schon gesehen haben. Zum Beispiel den Bürgerkrieg in den 90er Jahren in Somalia, über den sie als Reporterin berichtet hat. Wie eine Bombe ihren Journalisten-Kollegen tödlich traf und sie nur knapp überlebte. Wie sie Stunden später den Leichenteppich über sich sah, obwohl sie noch atmete.
Das Treffen findet bewusst einen Tag, bevor die neue Ausgabe erscheint, statt. Dann hat Seynab genug Zeit, um zu reden. Über das Leben. Am Erscheinungswochenende des neuen Hefts hat sie hingegen viel zu tun. Dann verkauft sie am meisten Hefte. Schliesslich hat sie sechs Kinder zu versorgen, denn sie beziehe keine Sozialhilfe.
Seit 20 Jahren steht Seynab Tag für Tag auf den Strassen Zürichs und verkauft das Surprise-Magazin.
Sie lacht laut. Ein älteres Paar winkt ihr von weitem zu. In Witikon kennt Seynab gefühlt alle. Und alle kennen Seynab.
Ganz andere Szenen spielen sich am Bahnhof Winterthur ab, da würden die Passantinnen und Passanten sie meistens ignorieren. Sie würden Blickkontakt mit ihr meiden, einen grossen Bogen um sie machen, beschämt schnell weiterlaufen, wenn sie ihnen ihr Heft entgegenstreckt und sie grüsst, sagt Seynab.
Einmal habe eine ältere Frau ihr eine Handtasche ins Gesicht geschlagen und geschrien: «Abfahren! Geh zurück in deine Heimat! Abfahren, subito, du nimmst mir mein Geld weg!» Nach 20 Minuten sei die Frau zurückgekehrt. Seynab hatte grosse Angst vor ihr. Doch die Frau entschuldigte sich bei ihr und erklärte, dass sie einfach Seynabs Kopftuch störe.
Wie soll man darauf reagieren? «Ich habe ihr gesagt, dass hinter dem Kopftuch ein Mensch steckt. Das Kopftuch ist einfach nur ein Kleidungsstück.» Das war vor x Jahren, Seynab erinnert sich gar nicht mehr, wann genau. Inzwischen kennen sich die beiden Frauen gut, telefonieren regelmässig, die Frau lädt Seynab in der Weihnachtszeit immer zu einem Kaffee bei sich ein.
Seynab zuckt mit den Schultern.
Diskriminierung auf der Strasse erlebt Seynab oft. Beschimpfungen von Passantinnen und Passanten gehören für Seynab zur Tagesordnung, auch Morddrohungen. Manchmal reagiert sie passiv und nimmt es gelassen, lächelt zurück. Manchmal schreie sie zurück: «Ich nehme niemandem Geld weg!» Seynab bezieht keine Sozialhilfe. Mit dem Verkauf der Surprise-Magazine kommt sie über die Runden. Sie sagt, sie habe hart gekämpft, um auf den Zürcher Strassen stehen und Surprise-Hefte verkaufen zu können.
Ihre Heimat Somalia hat die 56-Jährige zuletzt 2001 gesehen. Ihr sonst so breites Lächeln verschwindet. Seynab kommt aus gutem Haus. Ihr Vater war Besitzer eines Hotels. Sie profitierte von der Sprachförderung während der Regierungszeit von Diktator Siad Barre und studierte Italienisch und Politikwissenschaften. Wenige Jahre nachdem Somalia die Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht erlangt hatte, hatte sich General Siad Barre 1969 an die Macht geputscht. Er führte eine sozialistische Diktatur ein, zuerst geprägt von Reformen, in den 1980er Jahren wurde sie jedoch zunehmend autoritär und instabil.
Nach ihrem Studium schrieb sie sechs Jahre lang beim arabischen Nachrichtensender Al Jazeera als Journalistin, mitten im Bürgerkrieg Somalias. 1991 erreichte dieser seinen Höhepunkt: Diktator Barre wurde von Klan-Gruppen gestürzt, danach versuchten verschiedene Milizen die Macht an sich zu reissen. Angesichts des gewaltsamen Todes mehrerer Hunderttausend Somalis verabschiedete die Uno eine Resolution und entsandte internationale Schutztruppen ans Horn von Afrika.
Als junge Journalistin war Seynab an vorderster Front dabei, als es zur Schlacht von Mogadischu am 3. Oktober 1993 kam, einem Kampf zwischen US-Soldaten und den Milizen eines Warlords. Die US-Truppen wollten im Rahmen einer UN-Mission den Warlord Mohammed Farah Aidid gefangen nehmen. Doch Aidid wurde im Vorhinein gewarnt, und der Einsatz misslang. Ein Black-Hawk-Hubschrauber der US-Einsatzkräfte wurde von Aidids Milizen abgeschossen.
Eine amerikanische Bombe erfasste einen Kollegen und er starb vor Seynabs Augen. Ein weiterer Bombenanschlag traf Seynabs Arm und Hüfte. Kurz darauf verlor sie ihr Bewusstsein. Als Hilfskräfte Seynab unter Trümmern fanden, erklärten sie sie für tot. Seynab wurde in einen Teppich gewickelt- sie sollte noch am selben Tag bestattet werden. Seynabs Blick harrt auf den ausgestellten Pflanzen der Migros Witikon, als sie daran zurückdenkt.
Danach konnte und wollte sie nicht mehr Journalistin sein.
Die islamistische Miliz Al-Shabaab gewann immer mehr an Einfluss. Inmitten des Bürgerkriegs heiratete Seynab und bekam drei Kinder. Bombenangriffe auf zivile Einrichtungen, Drohungen und Erpressung durch Schutzgeld gehörten zum Alltag. Schliesslich wollte Seynabs Ehemann im Jahr 2000 mit der jungen Familie flüchten. Die im siebten Monat schwangere Seynab stimmte zu. Über ihre Flucht will sie nicht genau sprechen. Sie verweist lediglich auf das Buch «Frauen auf der Flucht» von Tina Ackermann. Da hat sie ihre Flucht ausführlich beschrieben, zusammen mit einer Dolmetscherin. Sie könne nicht immer wieder darüber sprechen.
Im Buch erzählt Seynab, wie sie und ihre Familie über Äthiopien und Eritrea in den Sudan gelangen. Von dort aus sollte es durch die sudanesische Wüste nach Libyen weitergehen. Gemeinsam mit 30 anderen Flüchtenden fuhren sie in einem Tiertransporter durch die Wüste. Die Gruppe entdeckte mehrere vom Sand verwehte Erhöhungen. Beim zweiten Blick wurde ihnen klar, dass es menschliche Körper waren, die im Sand lagen. Sie zählten rund 45 Leichen.
Vermutlich waren die Menschen zu Fuss unterwegs gewesen und waren in der Wüste verdurstet und verhungert. Die Gruppe fuhr schweigend weiter. Doch das Wetter verschlechterte sich konstant: Der Wind wurde immer stärker, die Spuren anderer Fahrzeuge, welche die Schlepper durch die Wüste leiteten, verschwanden. Es gab weder eine Internetverbindung noch Essensvorräte. Das Trinkwasser ging irgendwann auch aus, einige begannen, ihren eigenen Urin zu trinken. Seynab glaubte, dass ihr dasselbe Schicksal droht, wie den 45 geflüchteten Menschen. Irgendwann landete die Gruppe nicht in Libyen, sondern in der Republik Tschad.
Ein Mann wurde auf den Minibus aufmerksam und nahm die erschöpfte Gruppe mit zu sich nach Hause. Im Buch hält Seynab fest: Nur dank ihm seien sie und ihre Familie noch am Leben.
Nach zehn Tagen erreichten sie Tripolis. Im Mai 2000 kam Seynabs dritter Sohn zur Welt. Sie gebar in einer Garage. Eine Frau, die ebenfalls auf der Flucht war, stand ihr zur Seite. Kurze Zeit später fand Seynab Arbeit als Hausangestellte. Die Familie waren Bekannte von Muammar al-Gaddafi und sehr wohlhabend. Seynab arbeitete rund um die Uhr und wohnte mit ihren Kindern im Keller. Ihre Arbeitgeberin schlug sie regelmässig. Lohn gab es keinen.
Eines Abends war es soweit: Seynabs Mann hatte das Geld beisammen für die nächste Etappe. Seynab und ihre Familie waren seit fast zwei Jahren unterwegs. Das Boot, welches nach Lampedusa ablegte, war aber alles andere als vertrauenserweckend. Sie fuhren tagelang, trieben oft ohne Motor. Es gab wenig zu essen und kaum Wasser. Eine Freundin von Seynab, sie freundeten sich in Tripolis an, verdurstet. Man warf sie ins Meer. Ganze 17 Tage trieb die Gruppe auf dem offenen Meer, bis ihr Schiff von der italienischen Küstenwache aufgegriffen wurde.
In Italien wurde Seynabs Asylgesuch abgelehnt. So kamen Seynab und ihre Familie 2003 in der Schweiz an. Als erstes wollte Seynab nach Genf zur UNO fahren. Italien anzeigen, da ihr Asyl verweigert wurde. Plötzlich schaut mich Seynab mit einem ernsten Blick und erhobenem Zeigefinger an. «Das meinte ich ernst. Ich wollte direkt nach Genf.»
Seynabs Start bei Surprise war alles andere als einfach. Von einem Bekannten erfuhr sie über die Arbeit als Strassenmagazinverkäufer. Als sie beim Surprise-Büro vorbeikam, war die Tür abgeschlossen. Seynab klopfte mehrmals fest ans Fenster. Die fremde Frau im Büro machte eine Handbewegung, um Seynab zu verscheuchen. Seynab gab nicht auf und versuchte es noch drei weitere Male. Doch der Ablauf wiederholte sich: Seynab klopfte heftig an die Scheibe, die Frau hinter dem Bürotisch scheuchte sie weg.
Beim fünften Mal sprach die Frau mit ihr. Surprise hatte damals noch keine Verkäuferinnen mit Kopftuch und sie war misstrauisch, ob Seynab überhaupt Hefte verkaufen würde. Eine Woche später stand Seynab mit einer roten Surprise-Jacke auf den Strassen Zürichs. Als erste Verkäuferin mit Kopftuch. Viele folgten. Seynab schmunzelt und meint:
Mittlerweile schreibt Seynab wieder. Kolumnen für das Magazin, mithilfe einer Dolmetscherin. 2020 wurde Seynab in «Effi», wie sie ihre Stadt Illnau-Effretikon liebevoll nennt, eingebürgert. Den 1. August feiert sie seitdem auch. Sogar eine Schweizer Fahne hat sie aufgehängt, und einmal hat sie eine Cervelat gegessen. Seynab kichert.
Die Kinder studierten alle in der Schweiz oder sind berufstätig. Seynab wollte ihre Mutter 2023 in die Schweiz holen, via Familiennachzug. Doch ihr wurde das Visa verweigert. Sie starb letztes Jahr in Somalia.
Seynab hat schon viele Leben gelebt: Studentin in Mogadischu, Kriegsreporterin im somalischen Bürgerkrieg, einen Tag lang für tot erklärt, Putzhilfe in Libyen, asylsuchende Mutter von sechs Kindern in Italien und stolze Schweizer Strassenmagazin-Verkäuferin bei Surprise. Das hinterlässt Spuren. Physische, wie ihre steife linke Hand seit der Schlacht von Mogadischu, aber auch psychische. Therapeutische Hilfe hatte Seynab aber nie.