«Genau hier bin ich gestanden. Ich war so glücklich. Endlich war ich angekommen», sagt Solomon in einwandfreiem Schweizerdeutsch. Er steht vor einem kleinen Fenster in einer alten Holzbaracke. Die Hände auf dem Tresen, um zu signalisieren, wie er den Asylbehörden seine Dokumente vorgelegt hatte. Damals, im Januar 2007.
Wer hätte gedacht, dass er, der Flüchtling aus Eritrea, 17 Jahre später in genau jenem Asylheim, das ihn einst aufnahm, unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) betreuen würde? «Ich auf jeden Fall nicht», sagt Solomon und lacht laut. Aber er sei der Schweiz dankbar dafür. Er habe seine Berufung gefunden.
Solomon ist Sozialarbeiter für die Peregrina-Stiftung im Asylheim in Frauenfeld.
Im Barackenteil, in dem Solomon steht, werden heute keine Asylgesuche mehr entgegengenommen. Stattdessen erhalten die UMA hier Unterricht. Auf dem Stundenplan steht etwa «Verkehrsmittel», «Rechtssystem», «Essen». An den Wänden hängen Plakate, gestaltet von den UMA. In Stichworten und mit Bildern, Zeichnungen, Rezepten stellen sie ihre Heimatländer vor. Auf Deutsch.
Auf eines der Plakate hat ein Jugendlicher die kurdische Flagge gemalt. Unter dem Begriff «Kultur» steht: «Halay spielen». Und: «Mensch sein».
Solomon nickt, als er das liest. Viele Jugendliche, die hier ankämen, seien doppelt traumatisiert: von den Erfahrungen im Heimatland und der Flucht. Er könne nachfühlen, wie es ihnen gehe. «Ich habe mich auf meiner Flucht oft nicht wie ein Mensch gefühlt. Weil man mich nicht wie einen behandelt hat.» Dann beginnt er zu erzählen.
Solomon war 20 Jahre alt, als er Eritrea für immer hinter sich liess. Zu flüchten sei die schwerste Entscheidung seines Lebens gewesen. Aber für ihn sei klar gewesen:
Ins Detail gehen, was er in Eritrea Schlimmes erlebt hat, möchte Solomon nicht. Aus Angst vor Konsequenzen für seine Familie, die nach wie vor dort lebt.
Es war das Jahr 2005, als sich Solomon auf den Weg nach Libyen machte, wo er Schlepper für eine Überfahrt übers Mittelmeer bezahlte. Ziel: Italien. Doch in der Mitte des Ozeans, auf einem kleinen Boot, zusammengepfercht mit viel zu vielen Menschen, glaubte er einen Moment lang nicht mehr daran, überhaupt jemals wieder Festland zu sehen.
Das Boot hatte Risse. Wasser trat ein. In Panik schaufelten Solomon und die anderen Geflüchteten mehrere Stunden lang Wasser aus dem Boot. Mit allem, was sie hatten: Hände, Behälter, Kleider, Löffel. «Ich betete zu Gott, dass wir überleben.»
Sie überlebten. Alle. Doch statt Italien erreichten sie Malta, «wo uns die harte Realität einholte».
Die maltesischen Behörden hätten ihn in ein Flüchtlingslager gesteckt, in dem man ihn grösstenteils sich selbst überliess. «Sie behandelten Geflüchtete wie Schwerverbrecher», sagt Solomon. Zu einem Arzttermin etwa sei er in Handschellen abgeführt worden. Warme Kleidung habe er nur dank Hilfsorganisationen erhalten.
Schliesslich, nach sechs Monaten des Wartens, lehnte Malta sein Asylgesuch ab. Es drohte die Abschiebung zurück nach Eritrea. «Dieser Entscheid glich einem Todesurteil.» Also sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als nochmals zu flüchten. Diesmal mit einem neuen Ziel: Die Schweiz.
Denn die Schweiz hatte das Dublin-Abkommen mit der EU damals noch nicht unterschrieben. Ein abgelehntes Asylgesuch in Malta bedeutete hierzulande darum noch nicht automatisch Rückführung – was Solomon zu seinem Glück wusste.
Mit der Hilfe eines in Malta tätigen Pastors gelang Solomon die Flucht nach Deutschland. Von dort aus reiste er nach Kreuzlingen im Kanton Thurgau, wo er umgehend Asyl beantragte. «Da dachte ich: Jetzt bin ich sicher.» Doch Solomon sollte sich irren.
Die Schweizer Behörden setzten ihn in Handschellen in einen Polizeiwagen und fuhren ihn zurück nach Deutschland, wo ihn die deutsche Polizei in Gewahrsam nahm. Dort habe man versucht, ihn dazu zu bringen, Asyl zu beantragen. Doch Solomon weigerte sich. Er wusste, dass man ihn dann nach Malta und von dort aus zurück nach Eritrea schaffen würde.
Schliesslich, nach 18 Tagen in deutscher Untersuchungshaft, bewirkte eine Hilfsorganisation, dass die Schweiz Solomon zurücknehmen musste. Denn das Vorgehen der Schweizer Behörden war illegal.
Nur so landete Solomon schliesslich hier, in Frauenfeld. Vor genau diesem Fenster in der Baracke des Asylheims, vor dem er heute als offizieller Schweizer Staatsbürger steht.
Seit vier Jahren hat er den Schweizer Pass. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in einem kleinen Thurgauer Dorf.
Genug geredet. Solomon zeigt zur Baracke nebenan. Er müsse jetzt mal bei den «Kollegen» nach dem Rechten sehen. Er meint die UMA.
Es ist Sonntagnachmittag. Ein Ruhetag, auch im Asylheim in Frauenfeld. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben Zeit zur freien Verfügung. Sofern sie nicht von der Krätze betroffen sind, die jüngst im Asylheim grassierte. Die Angesteckten müssen vorübergehend in ihren Zimmern bleiben, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern.
Die Baracke, in der derzeit 18 UMA unterkommen, ist karg eingerichtet und schlecht isoliert. Die Jugendlichen teilen sich ein Bad, eine Küche und einen Gemeinschaftsraum. Ihre Zimmer reihen sich an einen langen, düsteren Gang.
Solomon läuft den Gang entlang und klopft an die Zimmertüren. Manche Jugendliche machen mit müden Augen auf, nicken ihm skeptisch zu und möchten schnell wieder in ihre zerwühlten Betten zurückkehren. In ihr Handy starren. Für den Rest des Tages.
Andere öffnen mit einem breiten Lächeln, begrüssen Solomon mit einem Handschlag, reissen Witze auf Arabisch.
Die Zimmer sind dunkel, stickig, klein. Kaum zehn Quadratmeter, die auf vier Bewohner ausgelegt sind – wobei sich derzeit nur zwei Jugendliche ein Zimmer teilen. Rechts und links steht jeweils ein doppelstöckiges Bett, in der Mitte ein Tischchen. Darüber befindet sich ein Fenster.
Zweieinhalb Jahre lebte Solomon in einem ebenso kleinen Zimmer wie die Jugendlichen, die er heute betreut. So lange wartete er auf seinen Asylentscheid. Das Warten sei für viele Asylsuchende zermürbend, frustrierend:
Gegen dieses Frustrationspotenzial will der Bund vorgehen. Im November 2023 startete ein Pilotprojekt im Bundesasylzentrum in Zürich: das 24-Stunden-Verfahren. Es richtet sich an Personen aus Staaten, die wenig Chancen auf Asyl haben. Asylsuchende aus Ländern, bei denen eine Abklärung komplexer ist – so wie in Solomons Fall –, können allerdings auch weiterhin zwei Jahre oder länger in den Asylheimen feststecken. Wartend. Hoffend.
Ein Ziel vor Augen zu behalten, das rät Solomon den Asylsuchenden jeweils. Er hat es selbst so gemacht. Sich darauf konzentriert, Deutsch zu lernen und sich darum bemüht, eine Lehre absolvieren zu können. Als er dann den positiven Asylentscheid erhielt, habe er sofort in sein neues Leben starten können. Eine Lehre als Plattenleger begonnen.
Was, wenn die Schweiz sein Gesuch abgelehnt hätte? «Dann hätte ich trotzdem eine neue Sprache erlernt und Berufserfahrungen gemacht. So oder so wären meine Bemühungen nicht umsonst gewesen.» Diese Perspektive auf die Zeit im Asylheim versucht Solomon an die Jugendlichen weiterzugeben. Andere motivierende Argumente hat er nicht. Denn:
Solomon erzählt, wie er sich bereits von zahlreichen integrierten, motivierten Asylsuchenden schmerzlich verabschieden musste, deren Gesuche die Schweiz abgelehnt hatte. Und wie er gleichzeitig beobachtete, wie andere Asylsuchende, die kein Interesse an der Schweiz, der Kultur, der Sprache, dem Erlernen eines Berufs zeigten, bleiben durften. «In diesem Punkt finde ich unser Asylwesen darum nicht fair.»
Das Problem sei, dass Menschen über das Schicksal der Asylsuchenden entschieden, die absolut nichts über die Person wüssten. «Asylsuchende sind nur eine Nummer.» Natürlich sei das demotivierend. Entmenschlichend. Aber ändern könne er das nicht.
Draussen dämmert es. Und in der Baracke der UMA beginnen zwei Jugendliche aus Afghanistan damit, das Abendessen vorzubereiten. Solomon gesellt sich zu ihnen und packt mit an.
Die drei unterhalten sich über die Schnupperlehre bei einem Sanitär im Thurgau, die dem 17-jährigen, selbsternannten Küchenchef bevorsteht. Er freue sich und sei gespannt, ob ihm der Beruf gefallen werde, sagt dieser.
«Da war ich auch. Hat mir nicht so gefallen», wirft der andere Teenager ein. Er selbst wolle lieber in die Logistik. Oder IT. Solomon findet, er solle sicher in beiden Berufen reinschnuppern. Sehen, was ihm besser gefalle. Aber: «Logistik und IT ist beides gut. Die Schweiz kann in beiden Bereichen jemanden wie dich brauchen.»
Der Jugendliche strahlt. «Solomon ist mein Vorbild», sagt er später. Dank ihm habe er so schnell Deutsch gelernt und wolle er so bald wie möglich seine Lehre machen. Er sagt es in fast einwandfreiem Hochdeutsch, obwohl er erst seit einem Jahr in der Schweiz lebt. Solomon ist ob dieses Kompliments nicht gerührt, sondern stolz. «Wie ein Papa», sagt er selbst. Die Jugendlichen kichern.
Die beiden UMA machen einen motivierten Eindruck. Besonders dank Solomon? Er zuckt die Achseln.
Mehrmals an diesem Tag betont Solomon, dass auch er – trotz seines Hintergrundes – keine Wunder vollbringen könne. Ob sich eine Person gut integriere, hänge immer noch von ihr allein ab. Aber jene, die bereit wären, für eine bessere Zukunft an sich zu arbeiten, werde er immer unterstützen. Denn:
Diese Aussage sollte bei Beat Jahns die Alarmglocken läuten lassen.
Dieser Satz, sollte der Schlüssel sein, um die Asylfrage helfen zu lösen.