Zwischen dem 21. und dem 28. September treten beim «Homeless World Cup» 64 Teams aus 49 Nationen gegeneinander an. Was alle Teilnehmenden gemeinsam haben: Sie stehen normalerweise nicht unbedingt im Rampenlicht, sondern eher am Rande der Gesellschaft.
Am Turnier in der südkoreanischen Hauptstadt erhält der oftmals etwas floskelhaft anmutende Satz «Fussball ist mehr als nur ein Spiel» eine ganz konkrete Bedeutung. Denn an der Strassenfussball-WM geht es nicht in erster Linie um das Resultat oder fussballerische Fertigkeiten, sondern vielmehr um Selbstermächtigung, soziale Integration und das Entdecken der eigenen Ressourcen. König Fussball wird für einmal gewissermassen nur zum «Mittel zum Zweck».
«Um die Ziele zu erreichen, die wir mit dem Homeless World Cup verfolgen, gibt es verschiedene Kanäle», meint Carmen Peter, die als Coach des Schweizer Nati-Teams der Frauen mit nach Seoul reist, und fügt an: «Wir haben dafür den Kanal Fussball gewählt».
Die Schweiz ist in Seoul mit einem Männer- und einem Frauenteam vertreten. Jede Spielerin und jeder Spieler darf nur einmal an einer Endrunde teilnehmen. Die Selektion der Teammitglieder, die Vorbereitung und die Organisation der Reise werden vom Verein Surprise organisiert. Das Ziel: Menschen mithilfe des Strassenfussballs die Rückkehr «aus dem sozialen Abseits zurück aufs Spielfeld des Lebens» zu erleichtern.
Der Bezeichnung «Homeless World Cup» ist eigentlich irreführend, denn: Von den Teilnehmenden aus der Schweiz sind die wenigsten von Obdachlosigkeit betroffen. «Es heisst Homeless World Cup, aber in der Schweiz sind es andere Thematiken, die uns beschäftigen, zum Beispiel Armut, Lebenskrisen, Suchtprobleme oder Migration. Jedes Land hat seine eigenen Themen», erklärt Coach Peter.
Fussball, so Carmen Peter, kann Menschen auch bei der Umsetzung von persönlichen Zielen unterstützen. So spielen in den Trainings, welche die Teilnehmenden vor dem Turnier absolvieren, nicht nur fussballerische Aspekte eine Rolle, sondern auch das Geschehen neben dem Platz: «Wir haben mit jeder Spielerin im Vorfeld ein Coaching, in dem sie je ein Ziel im fussballerischen und im persönlichen Bereich festlegt. In Seoul haben wir dann ein zweites Gespräch, in dem wir besprechen, wo die Person im Zusammenhang mit diesem Ziel steht und wo sie Unterstützung braucht.»
Eine wichtige Erfahrung sei für die Teilnehmenden das Zusammenspiel im Team: «Wir begleiten das Ganze natürlich, aber wir versuchen immer, die Verantwortung dem Team zu übergeben. Im besten Fall lösen sie allfällige Konflikte selbst. Das Ziel ist es, dass das Team so zusammenwächst, dass es die verschiedenen Hürden gemeinsam nehmen kann», erklärt Peter.
Wie positiv sich die Erfahrung, Teil eines Teams zu sein, auf Menschen auswirken kann, zeigt die Geschichte von Cathrin, die als Trainerin des norwegischen Teams nach Seoul reist. Sie hatte mit einer Drogensucht zu kämpfen, als sie über ihre Sozialarbeiterin den Weg in ein Fussballteam fand, mit dem sie 2014 schliesslich am Homeless World Cup teilnahm. Erschien sie aufgrund eines Rückfalls nicht zum Training, erkundigten sich ihre Teamkollegen nach ihr. «Die Tatsache, Teil des Lebens von anderen zu sein, war für mich extrem motivierend», sagt Cathrin über ihre Erfahrung, die ihr dabei geholfen hat, clean zu werden.
Es sind Geschichten wie diejenigen von Cathrin, die Janosch Martens, Leiter des Surprise Strassenfussballs, motivieren: «Die Teilnehmenden sollen eine Entwicklung durchmachen und aus der Teilnahme etwas Positives für ihre Lebenssituation mitnehmen können».
Auch im Schweizer Team zeigen sich die positiven Auswirkungen des Projekts: «Ich stehe mit vielen ehemaligen Teilnehmenden im Kontakt und sehe, wie sich das Turnier positiv auf Menschen auswirken kann. 2019 ist beispielsweise ein Spieler mit uns nach Cardiff gereist, der danach selbst ein Team als Trainer übernommen hat und heute regionaler Verantwortlicher für den Surprise-Magazin-Verkauf ist.»
Peter sieht im Homeless World Cup ebenfalls grosses Potenzial, wenn es um die persönliche Weiterentwicklung geht: «Unser Hauptziel ist es, alle, die an dieser Kampagne teilnehmen, in ihren persönlichen Ressourcen, die sie haben, zu stärken, im Umsetzen dieser Ressourcen zu unterstützen, sodass es im besten Fall auch im Leben nach dem Homeless World Cup weitergetragen werden kann.»
Aufgrund des Austragungsorts am anderen Ende der Welt ist der Homeless World Cup auch finanziell mit einem relativ hohen Aufwand verbunden. Ausgaben vor Ort für Unterkunft, Verpflegung und Organisation übernehmen das Gastgeberland und der Homeless World Cup. Die Reisekosten und alle Ausgaben, die im Vorfeld des Turniers anfallen, werden aber von Surprise gestemmt.
Das Budget ist insbesondere dann knapp bemessen, wenn die 20 Teilnehmenden – wie in diesem Jahr – eine lange Flugreise auf sich nehmen müssen. Eingekleidet werden die Teams vom Schweizerischen Fussballverband.
Ausgaben, die sich lohnen, findet Martens. Viele Spielerinnen und Spieler müssen in ihrem Alltag aufs Reisen verzichten und auch die Stimmung, die an ein olympisches Dorf erinnere, sei eine einmalige Erfahrung: «Der Spirit, der herrscht, wenn am Schluss alle Teilnehmenden das Finalspiel schauen und schöne Aktionen bejubeln und die Verliererinnen oder Verlierer trösten, ist extrem prägend», erklärt der Teamleiter.
Im März 2024 hat Netflix im Zusammenhang mit dem Homeless World Cup einen Spielfilm namens «The Beautiful Game» veröffentlicht. Dieser sei, so Martens, zwar etwas «überzeichnet», bringe den Geist des Turniers und die Geschichten der Menschen, die daran teilnehmen, aber gut auf den Punkt.