Der Bundesrat regelt den Einbezug der Wissenschaft in einer Krise neu. Dazu hat er am Freitag eine Zusammenarbeitsvereinbarung mit den sechs grossen wissenschaftlichen Organisationen wie dem ETH-Rat, dem Schweizerischen Nationalfonds, dem Verein Akademienverbund a+ und den Schweizer Hochschulen verabschiedet.
In diesem Papier steht, dass der Bundesrat bei einer Krise prüft, ob ein wissenschaftliches Beratungsgremium notwendig ist. Wenn ja, schlagen die Wissenschaftsorganisationen Expertinnen und Experten für die Mitwirkung vor. Die Swissuniversities, die schweizerischen Hochschulen, sind dafür die Kontaktstelle.
In der Vereinbarung enthalten ist ein Kodex, der Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Wissenschafter festlegt. So wie die Taskforce in der Coronakrise informiert dieses Beratungsgremium die Politik über den aktuellen Wissensstand in ihrem Fachgebiet, entwirft Szenarien, skizziert Massnahmen. Von zentraler Bedeutung sei die Bereitschaft beider Seiten, sich nicht in die Aufgaben der anderen einzumischen.
Die Regelung mit einer Vereinbarung könnte darauf schliessen lassen, dass die Zusammenarbeit Politik und Wissenschaft in der Pandemie nicht richtig funktioniert hat. Das verneint Marcel Tanner vehement. Der Basler Epidemiologe ist Mitunterzeichner, war Mitglied der ersten Corona-Taskforce und ist Präsident des Akademienverbunds a+.
Diese Vereinbarung zur Politikberatung in einer Krisenzeit resultiere aus politischen Vorstössen aus dem Jahr 2020, also zur Hauptzeit der Pandemie. «Und nicht weil die Taskforce und der Bundesrat schlecht zusammengearbeitet haben», sagt Tanner.
Die Zusammenarbeit sei zu Beginn der Pandemie zwar nicht einfach gewesen, was bei einer derartigen Krise aber normal sei. Auch die damals von einigen kritisierten Schulschliessungen seien kein Problem der Zusammenarbeit gewesen.
Jetzt nutze man einfach die Erfahrungen der Pandemie, um die Rolle und Verantwortlichkeiten der Wissenschaft und der Politik vorgängig genau zu klären. «Damit wird klarer, wie Taskforces entstehen können in einer Krise.» Wichtig seien klare Regeln der Rollen aller Seiten: Wissenschaft, Bund und Kanton, das habe vorher nicht existiert.
Auch der Epidemiologe Marcel Salathé sagt, die gegenseitige Einmischung von Politik und Wissenschaft sei während der Pandemie kein grosses Problem gewesen. «Die Wissenschafter haben keine Politik gemacht, und die Politik hat keine Wissenschaft gemacht.» Die Wissenschaft habe sich aber am öffentlichen Diskurs beteiligt, und diese wissenschaftliche Kommunikation fand der Professor der ETH Lausanne sehr produktiv. «Am Schluss lieferte die Wissenschaft die Fakten und die Politik entschied. Dieses Rollenverständnis war immer klar», sagt Salathé.
Wissenschaftern wurde von den Massnahmengegnern der Vorwurf gemacht, sich zu stark in die Politik einzumischen. Salathé sieht da keinen Zielkonflikt. «Man darf wissenschaftliche Öffentlichkeitsarbeit nicht mit politischer Einflussnahme gleichsetzen. Die Bevölkerung hat ein legitimes Interesse, direkt von der Wissenschaft zu hören.»
Die Wissenschaft sage, was man wisse und nicht wisse, ergänzt Tanner. Daraus entstünden dann die Handlungsoptionen und der sozialpolitische Entscheid, welche Massnahmen eingeführt werden sollen.
Der Kodex hält denn auch fest, dass wissenschaftliche Erkenntnisse allein nicht ausreichen, um politische Entscheidungen zu treffen. Auch andere Aspekte wie gesellschaftliche Werte und Interessen müssten berücksichtigt werden.
Bereits im Vorfeld einer Krise bilden die Wissenschaftsorganisationen für gewisse krisenrelevante Themen sogenannte Cluster, damit Expertinnen und Experten schneller rekrutiert werden können. «Es ist sehr wichtig, eine echte Kollaboration zwischen Wissenschaft und Behörden schon vor der Krise aufzubauen, so wie wir es auch im Synthesebericht des NFP 78 Covid-19 vorschlagen», sagt Marcel Salathé zu diesen Clustern.
Die in der Krise dann eingesetzten Ad-hoc-Beratergremien seien dann unterschiedlich zu den ausserparlamentarischen Kommissionen, «die andere Funktionen haben und für Krisen nicht sehr wirksam sind», sagt Marcel Tanner. In einer Krise brauche es Geschwindigkeit.
(aargauerzeitung.ch)